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«Wenn Maschinen durch Kreativität, Neugier und Empathie überraschen, dann ist das starke Künstliche Intelligenz»

Derzeit wird der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) geradezu inflationär verwendet, findet Thilo Stadelmann. Der Informatik-Dozent der ZHAW School of Engineering erklärt im Interview, was dahinter steckt und warum clevere Software in praktisch jeder Branche hilfreich ist.

Kürzlich trafen sich an der ZHAW rund 180 Interessierte zur jährlichen COST-Konferenz zum Thema «Künstliche Intelligenz in der Industrie und Finanzbranche». Im Vorjahr waren es noch halb so viele Teilnehmende. Wie erklären Sie sich das gewachsene Interesse an KI?
Thilo Stadelmann: Wir erleben derzeit wieder einen emotionalen Hype. KI weckt Ängste und Sehnsüchte zugleich – und das nicht nur bei Fachpersonen, sondern auch in der Gesellschaft. Die Leute lesen KI und denken je nach Fasson an Weltuntergang oder Rettung der Welt. Für uns Forschende ist diese gesteigerte Aufmerksamkeit für unsere Arbeit einerseits schön, wenn sie dadurch vermehrt gefördert wird. Andererseits entsteht eine Erwartungshaltung, die schwer zu erfüllen ist. In den vergangenen 60 Jahren gab es bereits ähnliche KI-Hypes. Jedes Mal ist das Kartenhaus der öffentlichen Erwartung schliesslich wieder zusammengefallen. Es gibt sogar schon einen etablierten Begriff dafür: «KI-Winter». Den letzten haben wir Ende der 1990er-Jahre erlebt. Damals kam man mit der Erforschung der neuronalen Netzwerke nicht weiter. Nun stecken wir aber wieder mitten im KI-Hochsommer.

Das klingt ein Stück weit ernüchternd. Wo ist die KI-Forschung in den vergangenen Jahren konkret vorangekommen?
Deep Learning ist innerhalb der KI derzeit eines der Hauptforschungsfelder und hat auch den derzeitigen Hype ausgelöst. Wir können Rohdaten wie Fotos oder ähnliches in ein System stecken und dieses System wählt dann selbständig die Merkmale oder Kriterien aus, die es zur Erkennung von Gesichtern, Knochenbrüchen oder sogar Krebs braucht – das funktioniert heute alles schon ziemlich gut. Was wir Menschen gewöhnlich mit unseren Augen machen, das kann diese Art KI heute sehr wahrscheinlich gleich gut oder sogar besser. Bemerkenswert ist aber, dass die grundlegenden Architekturen dafür bereits in den 1970ern erforscht waren. Aber erst heute haben wir neben den entscheidenden Details an Ideen auch die technischen Möglichkeiten, die theoretischen Erkenntnisse von damals in der Praxis umzusetzen. Wir haben heute die nötige Hardware und dank der Digitalisierung und Vernetzung auch eine Unmenge an erfassten Daten, mit denen wir die Algorithmen trainieren können.

Immer wieder werden Stimmen laut, die Künstliche Intelligenz könnte Überhand nehmen. Wie schätzen Sie das Gefahrenpotenzial ein?
Wir bringen Maschinen bei, bestimmte Wahrnehmungsaufgaben für uns Menschen zu erledigen. Heute sind wir erst so weit, dass Maschinen das bezogen auf ein ganz bestimmtes Aufgabengebiet tun können. Die Rede ist von 'schwacher KI'. Nehmen wir beispielsweise die Kamera mit Gesichtserkennung: Ein solches System ist eigentlich gar nicht intelligent, sondern einfach sehr gut in dem, was man ihm beigebracht hat. Das System kommt nicht von selbst darauf, unterschiedliche Aufgaben miteinander zu verbinden. Es könnte Leute statt nur anhand von Gesichtern beispielsweise auch an ihrer Kleidung erkennen – tut es aber nicht. Es entwickelt keine Kreativität. Der Mensch ist intelligent, weil er nicht getrimmt und beschränkt ist auf einen bestimmten Kontext. Wenn Maschinen Kreativität, Neugier und Empathie entwickeln, anstatt nur zu reagieren – wenn sie mich im positiven Sinn mit ihrem Handeln überraschen können – dann ist das der Beginn von 'starker KI'. Wann wir so weit sind, weiss kein Mensch.

Google-CEO Sundar Pichai gibt derzeit öffentlich die Marschroute «Artificial Intelligence first» vor. Gilt «Künstliche Intelligenz zuerst» nur für globale Unternehmen oder tun auch KMU gut daran, sich intensiver damit zu befassen?
Die grossen Internetfirmen aus dem Silicon Valley sind zu einem grossen Teil verantwortlich für den Hype, den wir gerade erleben. Es ging diesmal vom Winter direkt ohne Frühjahr in den Sommer. Gesichter erkennen, nutzerspezifische Vorschläge unterbreiten und so weiter – für solche Softwareentwicklungen haben Google und Co. nun wieder den Begriff KI verwendet. Aber ganz egal, wie wir es nun nennen: Software, die clever agiert und selber dazulernt, ist in praktisch jeder Branche und jedem Unternehmen – ob global oder KMU – hilfreich. Es gibt immer Prozesse, die man zumindest teilweise automatisieren kann – insbesondere Routinearbeiten, die kein Mensch machen will oder auch nicht stundenlang bei gleichbleibender Konzentration machen kann.

Welche Möglichkeiten bietet die ZHAW School of Engineering als Partnerin in der Forschung und Entwicklung von Künstlicher Intelligenz?
Wenn sich ein Unternehmen fit machen möchte für die Digitalisierung – also Prozesse teilautomatisieren möchte, dann haben wir an der ZHAW School of Engineering über 70 Fachpersonen, die dabei helfen können. Derzeit arbeiten wir beispielsweise mit einem KMU zusammen, das Maschinen für die Herstellung medizinischer Implantate baut. Für die Qualitätskontrolle der Produkte waren bisher Menschen zuständig. Der Mensch wird aber irgendwann müde und unkonzentriert. Deshalb entwickeln wir nun eine Maschine, die die Produkte qualitativ überprüfen kann. Die Maschine schaut sich die Produkte automatisch mithilfe von Kameras an und entscheidet selbständig, ob die Ware in Ordnung ist – oder ob etwas von der Norm abweicht und deshalb vom Mensch manuell überprüft werden muss. Aber auch ausserhalb der klassischen Industriezweige kann KI hilfreich sein. Zusammen mit einem Start-up-Unternehmen realisieren wir ein Projekt für professionelle Musikorchester. Konkret geht es darum, gedruckte Noten in digitale Noten für den Tablet-Computer zu überführen. Und zwar nicht einfach als Viewer für PDFs; die Software soll vielmehr die Musik mitlesen und verstehen können. So kann etwa automatisches Blättern durch den ständigen Abgleich des Gehörten mit den dargestellten Noten erreicht werden. Unsere Software kann am Ende also Noten lesen – als junger Klavierschüler hatte ich damit so meine Mühe.