Digitale Hilfsmittel für die Soziale Arbeit nutzen
Roboter, Big Data und Neue Medien – die Digitalisierung verändert unser Leben rasant. In der Sozialen Arbeit können sie den Betroffenen mehr Selbständigkeit geben, wie das Beispiel eines Heims für Menschen mit Behinderung zeigt.
von Meret Reiser
Nehmen sie uns einfach lästige Alltagsarbeiten ab, oder verdrängen sie uns vielmehr Schritt für Schritt aus unseren Jobs und übernehmen am Ende die Weltherrschaft? Geht es um Robotik, prallen gegensätzliche Assoziationen und Emotionen aufeinander.
Auf der einen Seite dominieren die Faszination für die Möglichkeiten der Technologie, die Begeisterung über die neusten Gadgets und die Erleichterung, mühsame Arbeiten wie Rasenmähen und Staubsaugen abzugeben. Auf der anderen Seite herrscht Angst vor düsteren Science-Fiction-Szenarien, vor Cyborgs, vor vereinsamenden Menschen, aber auch davor, dass gesellschaftliche und soziale Gräben tiefer werden. Tatsache ist: Die Digitalisierung ist längst Teil unseres Lebens – und hat durch die Corona-Krise einen zusätzlichen Schub erhalten.
Gar nicht so Science-Fiction
Auch für Menschen in fortgeschrittenem Alter und Personen mit Behinderungen spielt Robotik eine zunehmend wichtige Rolle. Moderne Assistenzsysteme und Haushaltsroboter, die alltägliche Handgriffe übernehmen, sollen den Betroffenen eine selbständigere und selbstbestimmtere Lebensführung ermöglichen.
Forschungsteams rund um die Welt arbeiten kontinuierlich an der Weiterentwicklung von Systemen. Da gibt es etwa Exoskelette, das sind äussere, vom menschlichen Körper getragene mechanische Stützstrukturen, die Personen im Rollstuhl das Gehen wieder ermöglichen sollen oder bei körperlicher Arbeit unterstützen wie «Robo-Mate», der von der ZHAW entwickelt wird. Dazu kommen neuartigen Prothesen oder Nanoroboter, die mit den Gehirnzellen interagieren. Gewisse dieser technologischen Innovationen werden an Anlässen wie dem Cybathlon der ETH Zürich vorgeführt und getestet und sorgen regelmässig für mediale Aufmerksamkeit.
Eine, die sich tagtäglich mit den praktischen Möglichkeiten und Herausforderungen von Assistenztechnologien beschäftigt, ist Daniela Oehrli. Die Sozialpädagogin leitet den Bereich Erwachsene in der St. Josef-Stiftung im aargauischen Bremgarten, wo Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen leben. Seit einigen Jahren werden hier, inmitten historischer Mauern eines ehemaligen Kapuzinerklosters, Assistenztechnologien gezielt eingesetzt.
«Toll wäre ein vernetztes Haus, in dem die Türen automatisch aufgehen und der Lift durch Sensoren gerufen wird.»
Daniela Oehrli, Sozialpädagogin und Leiterin Bereich Erwachsene in der St. Josef-Stiftung Bremgarten
Die Hilfsmittel, von denen Oehrli erzählt, haben wenig mit den menschlich anmutenden Robotern aus Science-Fiction-Filmen zu tun, die unser Bild von Robotern so stark geprägt haben. Vielmehr handelt es sich beispielsweise um Rollstühle, die optional mit dem Mund bedienbar sind. Es gibt auch kommunikationsunterstützende Tablets, mit denen unter anderem durch Augenbewegungen Symbole und Piktogramme aktiviert werden können.
Hilfsmittel steigern Selbständigkeit
Dank solchen Robotern können die betroffenen Menschen ihre Bedürfnisse besser ausdrücken, eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängigkeit entwickeln und sich Freiräume schaffen. Das hat bisweilen ungeahnte Auswirkungen, wie Oehrli erzählt: «Die Klientinnen und Klienten werden manchmal gebeten, ihre Unterlagen am Empfang abzugeben, und es hat sich so eingebürgert, dass sie dort ein Schöggeli erhalten.» Seit die Stiftung die Kommunikations-Unterstützungstools hat, gehen einige auch dann zum Empfang und kommunizieren per Tablet und Piktogramm, dass sie gerne Schokolade hätten, selbst wenn sie keine Unterlagen vorbeibringen müssen.
Das kann als Konditionierung interpretiert werden. Gleichzeitig zeigt es, dass die Klientinnen und Klienten nun vermehrt die Möglichkeit haben, ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken und mit der Umwelt in Kontakt zu treten. «Sie machen sich selbstständig», erzählt Oehrli lachend.
Ethische Fragen
Die Sozialpädagogin hofft, dass diese Selbstständigkeit erweitert werden kann: «Toll wäre ein vernetztes Haus, in dem die Türen automatisch aufgehen und der Lift durch Sensoren gerufen wird. Das würde vor allem jenen Menschen im Rollstuhl helfen, die ihre Bedürfnisse und Wünsche kaum ausdrücken und auch keine Türen und Schalter betätigen können.»
In einem vernetzten Haus hingegen hätten sie die Möglichkeit, eigenständig und spontan unten im Garten ein paar Runden zu drehen oder gar den Tierpark zu besuchen. Da die Bedürfnisse höchst individuell sind, würden die entsprechenden Assistenzsysteme sehr viel kosten. Bis anhin ist niemand bereit, diese zu übernehmen.
Weitere digitale Hilfsmittel, die in der St. Josef-Stiftung eingesetzt werden, sind Lokalisierungs-Chips. «Wir platzieren diese in die Hosentaschen von Kindern, die besonders gerne ‹ausfliegen›», erzählt Daniela Oehrli. Bei solchen digitalen Tools stellen sich natürlich viele ethische Fragen. Sicherheitsüberlegungen werden gegen den Schutz von Privatsphäre, die Förderung von Selbstbestimmung und autonomer Handlungsweisen aufgewogen.
Huhn oder Robbe?
Meinungsaustausche werden in der St. Josef-Stiftung offen geführt, Widerstände und Ängste habe es im Team gegenüber den neuen Hilfsmitteln jedoch im Allgemeinen nicht gegeben, sagt Oehrli. «Der Grund dafür ist sicherlich, dass es sich um einen längeren Prozess handelte und die Hilfsmittel abstrakte Gestalten wie ein iPad oder eine Prothese hatten, die nicht bedrohlich wirkten.»
Anders war es, als über einen möglichen Einsatz von Paro diskutiert wurde, ein Therapie-Roboter in Form einer Plüschrobbe. «Sofort wurde eingewendet, dass unser Tierwart regelmässig auf die Wohngruppe komme, mit einem Huhn oder Hasen. Zudem haben wir öfters Besuch von den Sozialhunden», erzählt Daniela Oehrli. Wozu also noch einen Roboter, wenn man bereits richtige Tiere habe? «Bei menschen- oder tierähnlichen Hilfsrobotern scheint bei uns momentan eine feine Grenze zu verlaufen.»
Tagung «Sozial und digital: Wie wir neue Chancen nutzen»
Stellen sich in Ihrem Arbeitsalltag auch Fragen zum Einsatz digitaler Technologien? Wie können möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen davon profitieren? Diskutieren Sie mit Daniela Oehrli und weiteren Vertreterinnen und Vertretern aus Forschung und Praxis an der ZHAW-Tagung «Sozial und digital: Wie wir neue Chancen nutzen» am 29. Oktober 2020. Es hat noch wenige freie Plätze.
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