Wie man Zivilcourage trainieren kann
Belästigungen, Beleidigungen und Handgreiflichkeiten: Viele von uns haben in der Öffentlichkeit schon Situationen erlebt, bei denen man eingreifen sollte – und es doch nicht tut. Doch Zivilcourage ist lernbar, sagt ZHAW-Dozentin und -Forscherin Melanie Wegel.
Interview: Regula Freuler
Was ist Zivilcourage?
Melanie Wegel: Zivilcourage ist mehr als «sich einmischen». Zivilcourage heisst auch, man steht ein für Werte unserer Zivilgesellschaft wie Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit. Ebenso steht man ein für Demokratie und zeigt Charakterstärke.
Warum zögern Menschen in der Öffentlichkeit meistens so lange, bis sie eingreifen?
Zum einen gibt es den Bystander-Effekt: Das heisst, man fühlt sich nicht verantwortlich einzugreifen, weil andere Menschen auch noch da sind und zuschauen. Oftmals ist es aber einfach sehr schwierig, sowohl Situationen richtig einzuschätzen wie auch die Reichweite dessen abzuwägen, was «einmischen» bewirken kann. Viele Menschen fragen sich – zu Recht: Auf welche Art und Weise kann man bei Situationen eingreifen, ohne sich damit selbst in Gefahr zu bringen? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, um Hilfe zu holen, wann verständige ich die Polizei? Diese Fragen bleiben oftmals als unbehagliches Gefühl zurück, wenn man problematische Situationen im öffentlichen Raum beobachtet und nichts tut. Manche Menschen beschäftigt das danach noch sehr lange.
Ist es Charaktersache, ob man einschreitet oder nicht?
Es gibt schon gewisse Charaktereigenschaften, die einige Menschen mutiger machen als andere. Aber grundsätzlich funktioniert Zivilcourage in den allermeisten Fällen nicht von selbst. Man muss sich vorher schon mit spezifischen Problemsituationen befasst haben, um in der entsprechenden Situation schnell Handlungswissen abrufen zu können. Wenn man damit gerüstet ist, kann man im Ernstfall so einschreiten, dass man Anderen hilft, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.
«Das Wichtigste ist, dass man sich konkrete Strategien aneignet.»
Melanie Wegel, Forscherin und Dozentin ZHAW Soziale Arbeit
Fridays for Future, Extinction Rebellion, Critical Mass, Black Lives Matter, Verschwörungstheoretiker und Corona-Skeptiker: Immer mehr Menschen demonstrieren auf der Strasse für ihre Anliegen. Kommt es deswegen in letzter Zeit häufiger zu Situationen, in denen Zivilcourage gefragt ist?
Das sind sicherlich ganz besondere Beispiele, die auch schon massiv eskaliert sind und wo sogar die Polizei Mühe hatte, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Aber man kann Bewegungen wie Fridays for Future sicherlich nicht mit den Auftritten von Corona-Leugnern vergleichen. Bei Letzteren ist es angezeigt, in einen Diskurs zu treten. Wenn man das nicht will, kann man aber auch zum Beispiel einfach Maskenverweigerer ansprechen beziehungsweise Zugbegleiter darauf hinweisen, dass gewisse Leute sich nicht an die Vorschriften halten.
Was meinen Sie mit «in einen Diskurs treten»?
Zivilcourage kann im Diskurs mit ihnen angebracht sein, wenn man nach den Gründen fragt und mit dem Gemeinwohl argumentiert. Freilich kann dabei aber auch sehr schnell ein Punkt kommen, wo dies nicht funktioniert. Zum Beispiel wenn es sich um Anhänger von Verschwörungstheorien handelt. Da eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den konkreten Themen gar nicht das primäre Interesse ist, sondern dieses darin besteht, einfach einer allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. In manchen Demos mischen sich auch Personen unter, denen es nicht um Grundrechte geht, sondern beispielsweise darum, rechtes Gedankengut zu verbreiten, was die Bewertung der Lage sicherlich schwierig macht.
Und wenn die Stimmung an Demonstrationen sehr aufgeladen ist?
Bei einem fortgeschrittenen Eskalationsstadium ist «einfach dazwischen zu gehen» sicherlich nicht ratsam. Dann gilt es, einen kühlen Kopf zu bewahren und professionelle Hilfe, namentlich die Polizei, zu holen.
Was lernt man in Ihrem Kurs «Zivilcourage – Hinsehen und helfen»?
Das Wichtigste ist, dass man sich konkrete Strategien aneignet. Zunächst geht es darum, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, damit eine Situation richtig eingeschätzt werden kann. Das ist oftmals gar nicht so einfach. Der Kern eines solchen Trainings sind Übungen zur Achtsamkeit, der Einsatz von Blickkontakt und Stimme sowie die Schärfung der Wahrnehmung von Grenzüberschreitungen. Es geht zum Beispiel auch darum zu trainieren, welche Körperhaltung man einnimmt und wie das auf die Aggressoren wirkt. Problemsituationen werden exemplarisch trainiert und können von den Teilnehmenden vorgegeben werden. Klassische Situationen sind etwa «Ärger im Tram» oder «Jemand wird in einem Park oder auf einem öffentlichen Platz belästigt, beleidigt oder angegangen».
Können Sie ein Beispiel dazu geben, wie eine solche praktische Übung aussieht?
Die Teilnehmenden überlegen sich eine Situation. Die Rollen werden vorab verteilt, also wer die Aggressorenrolle einnimmt, wer das Opfer ist. Der Verlauf ist nicht vorgegeben, es können sich unterschiedliche Dynamiken entwickeln. Die Situationen können mehrmals durchgespielt werden, wobei der Ausgang immer von den jeweiligen Handlungsabläufen abhängt. Die Teilnehmenden bringen dann das ein, was sie in den vorangehenden Übungen erlernt haben.
Das Programm wurde unter Beteiligung von Polizei und Pädagogen entwickelt. Was muss man sich darunter vorstellen?
Die Polizei verfügt über das nötige Erfahrungswissen. Es gehört zum polizeilichen Alltag, mit problematischen Situationen deeskalierend umgehen zu können. Die Pädagogen wiederum verfügen über das Methodenwissen, um das Ganze didaktisch umzusetzen. Unser Training wird von einem Präventionsexperten der Polizei durchgeführt.
Gibt es eine Art Regelkatalog, nach dem man sich am besten verhält, wenn Zivilcourage gefragt ist?
Im Prinzip kann man sich sechs Dinge merken: Hilf – aber bringe dich nicht selbst in Gefahr. Beobachte genau die Situation, präge Dir Tätermerkmale ein. Wähle die Notrufnummer der Polizei. Bitte Umstehende um Mithilfe. Kümmere dich um das Opfer. Stelle dich als Zeuge zur Verfügung.
Was heisst «Kümmere dich um das Opfer»? Wie stoppe ich die Täterschaft?
Beispielsweise kann man ein Opfer gezielt erstmal ansprechen oder so lange begleiten, bis man erkennt, dass der Aggressor oder die Aggressoren ausser Reichweite sind. Es reicht nicht, nur im Vorbeigehen zu rufen – «Heh, lasst das, oder ich rufe die Polizei!». Das bewirkt erstens nichts, beendigt die Situation meist nicht, und das Opfer bleibt in der Situation, die sich womöglich dadurch noch verschärft.
Wann sollte man sich definitiv heraushalten?
Sich ganz herauszuhalten, darf nie sein. Was man immer tun kann, ist, Hilfe zu organisieren. Nicht zuletzt deshalb, weil es eine gesetzliche Pflicht zum Handeln gibt. Man muss also wenigstens den Notruf der Polizei wählen.
Für wen eignet sich dieser Kurs?
Für alle. Denn wir alle bewegen uns in der Öffentlichkeit. Wir haben gesehen, dass sich der Kurs auch sehr gut für Teams eignet, also zum Beispiel Bürogemeinschaften. Eine Begleitevaluation hat gezeigt, die Teilnehmenden fühlen sich in ihrem Handlungsrepertoire und der Handlungskompetenz im Anschluss sicherer und sind auf die besagten Situationen sensibilisiert und auch bereit das erlernte umzusetzen.
Weiterbildungskurs «Zivilcourage – Hinsehen und helfen»
Das Training im WBK «Zivilcourage – Hinsehen und helfen» dauert drei Stunden. Die Problemsituationen können von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorgegeben werden. Das Training folgt einem Ablauf aus theoretischen Grundlagen und Erklärungen sowie einem Teil aus praktischen Übungen. Die Durchführung findet unter Einhaltung der Covid-19 Präventionsmassnahmen statt, weshalb die Teilnehmerzahlen begrenzt sind und Maskenpflicht besteht.
Kursdatum: 26.11.2020, 18 bis 21 Uhr
Kursleitung: Melanie Wegel
Durchführung: Günther Bubenitschek, Zivilcourage-Trainer, Erster Kriminalhauptkommissar a. D. und Präventionsbeauftragter des Weissen Rings.