«Für die Entwicklung der Luftfahrt war technologische Innovation immer der Haupttreiber»
Um ihr Überleben zu sichern, brauche die Luftfahrtindustrie heute mehr denn je erfahrene und gut ausgebildete Ingenieurinnen und Ingenieure, meint ZHAW-Dozent William Agius vom Zentrum für Aviatik. Er fordert die Entwicklung eines neuen Paradigmas für die Luftfahrt in einer Welt nach COVID-19.
Herr Agius, was bedeutet die COVID-19-Pandemie aktuell für die Luftfahrt?
William Agius: Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Branche noch nie in der Geschichte der Luftfahrt mit einer so grossen Herausforderung konfrontiert war wie dem weltweiten Ausbruch der COVID-19-Pandemie. Die Luftfahrt war schon immer sehr anfällig für Schwankungen in der Wirtschaft – in diesem Fall wird die Situation jedoch durch die Tatsache verschärft, dass die Luftfahrt heute wirklich eine Branche mit globaler Reichweite ist. Auf den ersten Blick sind die Aussichten düster. Die Passagiere bleiben aus, Flugzeuge müssen am Boden bleiben und die Belegschaft wird in Kurzarbeit geschickt oder gleich entlassen. Sowohl Airbus als auch Boeing mussten die Produktion in einigen ihrer Werke einstellen oder zumindest ihre monatliche Produktion reduzieren. Es versteht sich von selbst, dass auch sie früher oder später Entlassungen in Betracht ziehen müssen.
Die Luftfahrtbranche schien bereits vor der aktuellen Pandemie angeschlagen.
Für die Luftfahrtindustrie hätte die Pandemie nicht zu einem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Schon vor dem Ausbruch gab es wachsende Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf den Klimawandel. Damit einhergehend stieg die Kritik an der Rolle und Verantwortung der Luftfahrtindustrie. Der Beitrag der Luftfahrtindustrie zum Klimawandel lässt sich nicht leugnen. Dennoch sollten wir beachten, dass sie bei weitem nicht die grösste Verursacherin ist.
Zieht COVID-19 der Branche endgültig den Stecker?
COVID-19 bedeutet selbstverständlich nicht das Ende der Luftfahrtindustrie. Wie sagte schon der berühmte persische Dichter Rumi: Auch das wird vergehen! Es kursieren bereits viele Vorhersagen darüber, wie sich Flugverkehr und Flugreisen erholen werden, sobald die Pandemie unter Kontrolle gebracht worden ist. Dabei steht immer die Frage im Raum, wann das Wachstum zurückkehren wird, damit die Luftfahrtindustrie wieder zu dem werden kann, was sie vor der COVID-19-Pandemie war. Aber ist das wirklich das Ziel, welches die Luftfahrtindustrie anstreben sollte? Dass die Fluggesellschaften nur wenige Tage gebraucht haben, um vom Einstellen des Flugbetriebs an den Rand ihrer Existenz zu gelangen, beantwortet diese Frage. Bereits in den Monaten vor Ausbruch der Pandemie gab es Anzeichen dafür, dass nicht alles in Ordnung war. Die Probleme mit der B737 Max von Boeing sind zwei Jahre nach ihrem Grounding noch immer ungelöst. Viele Betreiber des Airbus A380 gaben bekannt, dass sie ihre Flotten verkleinern würden, da sie mit Überkapazitäten auf dem Markt zu kämpfen hätten. Und es war möglich, für 19 Franken von der Schweiz nach Mallorca zu fliegen. Das ist ein Betrag, der Urlauber glücklich macht, aber mit dem keine Airline einen Gewinn erzielen kann – egal wie schlank und kostengünstig ihr Betrieb ist.
«Damit die Branche in den kommenden Jahren wieder florieren kann, müssen alle Beteiligten offen für die Entwicklung neuer Technologien sein.»
William Agius
Sie fordern also ein Umdenken?
Die COVID-19-Pandemie hat unsere Welt und unser ganzes Leben grundlegend verändert. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Dinge eines Tages wieder genauso werden, wie sie vor dem Ausbruch waren. Für die Entwicklung der Luftfahrt war technologische Innovation immer der Haupttreiber. Damit die Branche in den kommenden Jahren wieder florieren kann, müssen alle Beteiligten offen für die Entwicklung neuer Technologien sein. Darüber hinaus muss die Luftfahrt für ein nachhaltiges Wachstum in Zukunft auch ökologische Möglichkeiten wie eine bessere Kraftstoffeffizienz oder erneuerbare Energiequellen berücksichtigen.
Welche technologischen Innovationen sind bereits Haupttreiber gewesen?
Beispielsweise hat das Internet der Dinge die Art und Weise, wie Fluggesellschaften oder Wartungs- und Reparaturdienstleister ganze Flotten verwalten, radikal verändert. Heute kann man ziemlich genau voraussehen, wann ein Bauteil das Ende seines Lebenszyklus erreicht hat und ersetzt werden muss. Man setzt fortschrittliche Analysen ein, um mögliche Situationen vorherzusagen und Massnahmen zu planen – bevor überhaupt ein Problem auftritt. Oder schauen wir die unbemannten Luftfahrzeuge an: Die Branche muss einen geeigneten Rechtsrahmen für eine Technologie definieren, von der viele noch vor wenigen Jahren glaubten, dass sie nur eine Modeerscheinung sei. Ihr Einsatz beschränkt sich mittlerweile längst nicht mehr auf militärische Operationen. Sie werden auch in der Wartung eingesetzt, um beispielsweise die Integrität eines Flugzeugs zu scannen und zu überwachen. Das nächste grosse Ziel in der unbemannten Luftfahrt wird die sichere Integration in den bemannten Luftraum sein, und später vielleicht der kommerzielle Einsatz zur Beförderung von Fracht und Passagieren.
Wie soll es nun weitergehen?
Für die Luftfahrtindustrie bleibt der Blick nach vorne gerichtet. Jetzt ist aber nicht die Zeit für Vorhersagen, wie lange es dauern wird, bis die Dinge wieder so sind, wie sie vor COVID-19 waren. Jetzt ist es an der Zeit, die Luftfahrt in einer Welt nach COVID-19 zu planen und dafür die nächsten Schritte mit Bedacht vorzubereiten. Hier werden neue wegweisende Technologien und spannende neue Berufe entstehen. Und deshalb braucht die Luftfahrtindustrie heute mehr denn je erfahrene und gut ausgebildete Ingenieurinnen und Ingenieure. Gut ausgebildet heisst, dass im Studium der Systemgedanke weiter an Bedeutung gewinnt und die interdisziplinäre Arbeit nicht nur in der Theorie existiert, sondern auch praktische Anwendung findet. Mit der Umgestaltung des Bachelorstudiengangs Aviatik vor wenigen Jahren sind Systems Engineering und Interdisziplinarität in den Vordergrund gerückt. Das war eine vorausschauende und zukunftsweisende Entscheidung, von der unsere Studierenden und die Industrie profitieren werden.
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