Von der Kernphysik zur Metaphysik
Eine exemplarische Untersuchung für die Zukunft eines tabuisierten Ortes am Beispiel des Kernkraftwerks Mühleberg
Masterthesis Michele Brühlmann
Frühlingssemester 2024
Dozierende Vorbereitung und Durchführung: Ingrid Burgdorf, Andreas Sonderegger, Ron Edelaar
Koreferenten: Franz Romero, Marco Graber
Vorwort der Dozierenden
In dieser Masterthesis steht die Themenwahl der Entwurfsrecherche repräsentativ für das Anliegen einer Generation, für welche das Engagement für die Umwelt einen grossen Stellenwert einnimmt. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Atomenergie. Diese Technik ist ein Beispiel für den Forschungsdrang, den Erfindungsgeist, aber auch die Hybris des Menschen.
Im Jahr 2019 wurde das AKW Mühleberg als erstes Schweizer Atomkraftwerk abgeschaltet, bis 2031 wird das Gelände nach erfolgter Dekontamination für den konventionellen Rückbau freigegeben werden. Was passiert dann mit diesem landschaftlich reizvollen, aber durch seine Vorgeschichte stark belasteten Ort? Soll die Geschichte möglichst ausradiert und dann weitgehend unbelastet ein neues Kapitel aufgeschlagen werden?
Michele Brühlmann plädiert in seiner Masterthesis für einen Neuanfang, aber gleichzeitig auch für die Kontinuität des Ortes. Die vergangene Nutzung soll als Teil der menschlichen Geschichte angenommen, der Ort aber trotzdem weitergedacht und für eine zukünftige Nutzung umgewidmet werden. Das ist eine interessante, aber schwierige These. Es bedeutet, sich -bis auf das architektonische Thema der Ruine- ohne weitere Anhaltspunkte auf eine Visionssuche zu machen, was für eine zukünftige Identität der Ort haben könnte. Hier kommt in der Entwurfsrecherche von Michele Brühlmann dem Element des Wassers eine Schlüsselrolle zu - nicht nur wegen der Lage am Fluss, oder der grossen Bedeutung des Wassers für die Kühlung der Atomanlagen, sondern auch aufgrund der elementaren Eigenschaft des Wassers als Grundlage allen Lebens, aufgrund von Assoziationen seines fluidenCharakters, welcher sich überall anpassen kann, aufgrund des Aspektes der Reinigung oder auch dem Nimbus des Ewigen, der Ursuppe der Schöpfung. Vom Element des Wassers abgeleitet werden die neuen Nutzungsszenarien für einen Wasserpark im Aussenraum, sowie für die Reaktorkuppel als Dampfbad und als Ort der Reinigung. Die faszinierende Untersuchung zur Thematik der Ruine kann mit der elementaren Bildersprache der ‚Pittura Metafisica‘ stimmig aufgenommen werden und verleiht dem Ort eine latent surrealistische Atmosphäre. Diese wohlgewählten Entwurfssetzungen bilden die Grundlage der Erzählung für eine Zukunftsvision des heute tabuisierten Ortes. Es entsteht eine neue Welt, welche mit Ahnungen von Ruinen, Wasser und Pflanzen, mit Vergangenheit und Zukunft spielt.
Auf der einen Seite enthält die Entwurfsrecherche sehr konkrete Ideen wie das neue Flussbad entlang der bestehenden Veloroute, die szenographische Bespielung des Reaktorraums mittels Lichttechnik (oder bei Dunkelheit dem Effekt der ‚Kamera Obscura‘), oder auch technisch ausgefeilte Vorschläge wie die mechanische Wasserversorgung der Becken mittels eines hydraulischen Widders. Auf der anderen Seite wird mit den architektonischen Eingriffen eine metaphysische Bilderwelt mit surrealen Anklängen geschaffen, die zusammen mit den Spiegelflächen des Wassers dem Ort ein geheimnisvolles Gepräge verleiht.
Die vorgestellte Entwurfsrecherche ist eine eindrucksvolle Arbeit, welche sich sich durch eine ideenreiche Recherche, ein breites Themenspektrum sowie durch eine gehaltvolle Bearbeitungstiefe auszeichnet. Eindrücklich ist die Arbeit auch aufgrund der idealistischen Komponente in der Wahl einer riskanten Fragestellung, welche weit weg ist von alltäglichen Fragestellungen unseres Berufsstandes. Auch musste ein nicht unerheblicher Zusatzufwand für die Erstellung der Plangrundlagen in Kauf genomen werden, da Pläne des Atomkraftwerkes aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht zur Verfügung standen und auf Umwegen recherchiert werden mussten.
Die Masterthesis von Michele Brühlmann zeigt auf, dass grosses Potential darin besteht, diese ungewöhnliche Aufgabe, für die es kein Erfahrungswissen gibt, mit dem entwerfenden Blick des Architekten anzugehen und verschiedenste Fragestellungen sowie Massstäbe parallel zu denken. Beachtenswert ist auch das Anliegen des Verfassers, sich gesellschaftlichen Fragen zu stellen und im Schnittpunkt unterschiedlicher Fachdiszipline, im eigentlichen Randbereich der Architektur, mit dem Mittel der Entwurfsrecherche einen Beitrag zu leisten. Es gelingt Michele Brühlmann eine höchst eigenständige, inspirierende Arbeit, welche als hervorragend bewertet wird.