Dichtestress – Ein Covid-19-Game
«Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir wirklich so dicht besiedelte Gebiete haben wollen. Bis jetzt haben wir argumentiert, dass es unabdingbar ist, verdichtet zu bauen und den öffentlichen Verkehr zu stärken, wenn wir die Energieeffizienz der Städte erhöhen wollen. Das ist aber kein gutes Rezept, wenn es um die Gesundheit der Bevölkerung geht.»
Richard Sennett, Tagesanzeiger, April 2020
Stadträume/Spielräume
Stadträume sind gesellschaftliche Kondensate und Projektionsflächen. In ihnen manifestieren sich Desiderata, Konflikte wie auch gesellschaftliche Schichtungsprozesse. Die Corona-Krise hat einmal mehr gezeigt, dass Stadträume nicht neutrale Behälter sind, sondern Akteure mit sozialen, politischen und ökonomischen Ansprüchen und Einflüssen. Erst in der konkreten und gebauten Form der Stadt und ihrer Aneignung, können wir – vorausgesetzt wir wollen das – diese Dispositive ablesen. Nachdem jahrzehntelang die Vorteile einer dichten Stadt gepriesen wurden, kann nun die Stadt – aus Pandemiesicht – nicht geräumig und luftig genug sein. Eine Forderung die schon in der Folge der Industrialisierung und der vielen Epidemien des letzten Jahrhunderts laut wurde.
Das Kind – die dichte Stadt – wird hier aber sprichwörtlich mit dem Bade ausgeschüttet: Dichtestress will nicht zuletzt zeigen, dass Dichte nicht gleich Dichte ist. Dichte ist abhängig von zahlreichen Aspekten, wie das Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum und die Arten der Übergänge dazwischen, welche die Qualität des Stadtraums bestimmen. Dichte wird oft mit Zahlen – als quantitative Einheit – erfasst, und im Zeichen von smart city dürfte dies in Zukunft noch öfter der Fall sein. Bei Diskussionen um Dichte sollte es aber vor allem um die atmosphärischen Qualitäten der Stadträume gehen, welche sich jedoch nicht mit Zahlen beschreiben lassen.
Es fehlt aktuell deutlich an Distanz, und zwar auf verschiedenen Ebenen: nicht nur die physische Distanz, die eingefordert wird, sondern auch Distanz zu den Ereignissen. Wir sind unfähig, die Situation, der wir aufgrund der Pandemie ausgeliefert sind, distanziert zu betrachten und besonnen zu reagieren. Wir sind ganz offensichtlich nicht krisenresistent.
Das Spiel versucht, eben dieses Manko auszuloten. Vor einem geschichtlichen Hintergrund soll die Situation mit der nötigen Distanz betrachtet werden. Auf sechs Levels werden historische Beispiele von Stadträumen dargestellt: von der Idealstadt der Renaissance bis zur abgerissenen Walled City in Kowloon (Hong Kong). Die Beispiele wurden aufgrund ihrer unterschiedlichen räumlichen Qualitäten ausgesucht – positive wie negative – und weisen steigende Dichtezahlen auf (Einwohnerdichte: EinwohnerInnen/Hektar). Die Ego-Perspektive des Spielers trägt zu einer unmittelbareren Erfahrung des Stadtraums bei. Um aber jede Assoziation mit einem Ego-Shooter zu verhindern, ist der Spieler krank und nicht die Nicht-Spieler-Charaktere. Das Ziel des Spieles ist es, durch Ausweichen so wenige Menschen wie möglich anzustecken. Wir gehen dabei von den geforderten 2 resp. 1.5 Metern aus. Mit dem Diagramm des amerikanischen Anthropologen Edward T. Hall (1914–2009) das jeder Mensch im Spiel umgibt, lässt sich zeigen, dass es sich dabei nicht einfach um willkürliche Zahlen handelt, sondern um Qualitäten der Interaktion zwischen Menschen im städtischen Raum. Demnach handelt ein Individuum in verschiedenen Räumen: dem Intimraum (0.45m), dem persönlichen Raum (1.2m), dem Sozialraum (3.6m) und dem öffentlichen Raum (7.6m).
Games als performative Theorie
Die Auflösung eines jeden Levels ist eine offene Türe, durch die man der Öffentlichkeit entkommt. Bei jedem Level hält der Spieler ein anderes Buch in der Hand, eine Leseempfehlung zum jeweiligen Level, gleichzeitig auch einen Wegweiser: Je stärker das Buch vibriert, desto näher befindet man sich bei der erlösenden Türe.
Dieses Videogame ist auch ein Experiment: Es stellt den Versuch dar, architektonische und städtebauliche Inhalte über ein anderes Medium als Schrift, Plan oder Bild zu vermitteln. Im Sinne von Serious Games soll man nicht nur etwas lernen, sondern das Spielen selber wird zu einer performativen Form der Theorie, welche die Mechanik und Atmosphäre des Spiels steuert. Walter Benjamin (1892–1940) spricht in seinem berühmten Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» (1935) von einer «Rezeption in der Zerstreuung» in Bezug auf die Art und Weise, wie der Mensch die Stadt und die Architektur in seinem Alltag wahrnimmt. Dabei unterscheidet er zwei Arten der Rezeption: «durch Gebrauch und durch Wahrnehmung». Das Videogame eröffnet hier eine neue Art der Rezeption durch Gebrauch, die nicht haptisch, sondern durch die Mechanik des Spiels bedingt ist. Es stellt damit auch eine neue Form der Architektur- und Städtebautheorie dar.
Andri Gerber, September 2020