Ein Haus für das Bauingenieurwesen
Das Haus Richard Coray ist vollendet. Mit dem Neubau an der Südseite des Lagerplatzes hat sich das Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen räumlich fest am Campus Stadt-Mitte verankert.
Wo heute das Haus Richard Coray steht, stand zu Sulzer-Zeiten die «Kranbahn 141». Fahrzeuge wurden beladen und entladen, Container verschoben. Inzwischen sind es dreissig Jahre her, seit sich der Industriekonzern von seinem Gründungsareal zurückzog. Nach und nach belebten Umnutzungen die Fabrikhallen. Am südlichen Ende des Lagerplatzes, zwischen der damaligen Kesselschmiede in der Halle 180 und den angrenzenden Wohnliegenschaften, setzt nun das Haus Richard Coray den Schlussstein. Der Neubau ist ein lang gestreckter Riegel. Wie einst die Kranbahn reicht er bis ganz nach hinten zu den Bahngleisen.
Ein soziales Labor
Nach rund dreijähriger Bauzeit ist der Studiengang Bauingenieurwesen mit über 150 Studentinnen und Studenten zu Beginn des Frühlingssemesters 2020 eingezogen. Benannt hat die ZHAW das Gebäude nach Bauingenieur Richard Coray, der im Jahr 1892 sein Studium am Technikum in Winterthur abgeschlossen hatte. Die Gerüste des Bündner Holzkonstrukteurs ermöglichten kühne Brückenbauten und galten als technische und handwerkliche Meisterwerke.
Das Haus Richard Coray ist kein gewöhnlicher Hochschulbau. Es ist Teil eines hybriden Gebäudes, das auch als Wohnhaus für Menschen in der zweiten Lebenshälfte dient. Das Gebäude verkörpert eine soziale Idee. «Ziel ist es, im Alltag Interaktionen und Begegnungsmöglichkeiten zwischen Menschen in ganz unterschiedlichen Lebensphasen zu ermöglichen», so die Architektin Birgit Rothen, Geschäftsführerin Rothen Architektur. Sozialer Kitt, sozusagen, um der gesellschaftlichen Segregation entgegenzuwirken und für ein lebendiges Stadtquartier zu sorgen.
Holzwerkstatt, Geotechnik- und Betonprüflabor
Der ZHAW-Teil des Gebäudes hat seinen Auftritt vor allem zur Bahn hin. Dort bei der Tössfeldstrasse 27 markiert der Kopfbau den Eingang für die Studierenden mit einer kräftigen Auskragung ab dem zweiten Obergeschoss. Ihr Ursprung ist technischer Natur, da bei Bauten in Gleisnähe gewisse Sicherheitsabstände zu beachten sind. Zugleich zeichnet die dadurch entstandene Überdachung den Hauptzugang des ZHAW-Teils aus. Im Kopfbau liegen die Unterrichtsräume: drei grössere mit je knapp 100 Plätzen, darüber im 3. Obergeschoss vier kleinere. Hinzu kommen studentische Arbeitsplätze mit Blick übers Gleisfeld und geräumige Foyers.
Das Herzstück des Gebäudes ist die Laborhalle. Sie erstreckt sich ebenerdig über 60 Meter Länge, ist 10 Meter breit und 5,6 Meter hoch. Auf einer Seite fällt Tageslicht durch raumhohe Fenster, auf der anderen liegen eine Holzwerkstatt, ein Geotechniklabor, ein Betonbau- sowie ein Betonprüflabor mit kontrollierter Luftfeuchtigkeit und Raumtemperatur. Dort werden Betonproben einem Verlauftest unterzogen und auf Zug- und Druckfestigkeit geprüft. Daneben entwickelt eine Fachgruppe Beton mit Faserverbundkunststoffen, darüber liegen Räume für Dozentinnen und Dozenten. Die Dimensionen der Halle erlauben es, die bis zum Umzug Anfang Februar noch in einem Gebäude an der Technikumstrasse zurückgelassene Wasserbaurinne unterzubringen. Damit sind Strömungsversuche vor Ort möglich.
Nebeneinander vereint
«Mit dem Neubau ist nun eine längere Phase abgeschlossen, die mit dem Umzug der damaligen Architekturabteilung vom alten Technikum an den Lagerplatz ihren Auftakt nahm», sagt Oya Atalay Franck, Direktorin des ZHAW-Departements Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen. 1991 erfolgte der Einzug in die umgebaute Halle 180 – bezüglich Raumkonzept eine der weltweit fortschrittlichsten Architekturhochschulen. Nach einigen Sanierungs- und Optimierungsmassnahmen ist diese seit 1996 die Basis des Departements Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen. 2018 zählte das Departement gut 500 Studierende, 120 Mitarbeitende teilten sich etwa 50 Vollzeitstellen, als es nach zweijähriger Umbauzeit in den angrenzenden Hallen 189 und 191 neue Unterrichtsräume, Werkstätten, Büros und die Mensa einweihte. Seither trägt der Hallenkomplex den Namen von Albert Frey, einem weiteren bekannten ZHAW-Absolventen.
Die angehenden Bauingenieurinnen und Bauingenieure erreichen das Gebäude von der Tössfeldstrasse her beim Haus Albert Frey. Auf dieser Seite entsteht ein neuer Quartierplatz. Von dort führt eine lange Gasse zwischen dem Alt- und Neubau zum ZHAW-Eingang. Darüber soll im dritten Obergeschoss dereinst eine Passerelle das Haus Richard Coray mit der Mensa im Haus Albert Frey verbinden. Seit der Gründung des Technikums Winterthur 1874 seien die Disziplinen Architektur und Bauingenieurwesen eng miteinander verbunden, betont Oya Atalay Franck: «Die ZHAW ist überzeugt, dass die schweizweit einzigartige Verzahnung von Architektur- und Bauingenieurwesen-Ausbildung essenziell ist, damit unsere Absolventinnen und Absolventen Verantwortung für eine zukunftsfähige und nachhaltige Gesellschaft und Baukultur übernehmen können.»
Fassade mit Textur und Patina
«Es war uns wichtig, dass sich die unterschiedlichen Nutzungen in der Gestaltung, in der Fassade und auch im Volumen abzeichnen», sagt Birgit Rothen. Die Stockwerke mit den Wohnungen, Ateliers und Gemeinschaftsräumlichkeiten der Genossenschaft Zusammen_h_alt sind gegenüber dem ZHAW-Teil versetzt und unterscheiden sich mit rostroten Farbtönen und einer Leichtfassade von den Labor- und Unterrichtsräumlichkeiten. Deren Betonfassade nimmt einen häufigen Baustoff der angehenden Ingenieure auf. In der Umsetzung sei die Multifunktionalität herausfordernd gewesen, sagt Thomas Böni von der Dürsteler Bauplanung GmbH, der einst in der Halle 180 sein Architekturstudium absolvierte und nun die Bauleitung zusammen mit Stefan Sutter innehatte.
Der Bau überzeugt, auch in den Details. Ein Beispiel dafür sind die Fertigbetonelemente der Fassade. Die Architekten liessen die Schalung mit einer Einlage aus etwa handbreiten, vertikal verlaufenden Brettern in drei verschiedenen Stärken herstellen. Nach dem Zufallsprinzip zusammengefügt, erhielt die Fassade eine reliefartige Textur mit Unterschieden von 3 und 6 Millimetern. Das verleiht ihr eine Lebendigkeit, die selbst aus einem vorbeifahrenden Zug wahrnehmbar ist. Aus der Nähe zeigen sich Spuren vom Rostwasser der Armierungseisen. Nur die gröbsten Zeugnisse des Bauprozesses wurden weggeputzt, der Rest belassen – eine bewusst eingesetzte «Direktheit und Rohheit», wie Birgit Rothen sagt. Das Gebäude startet mit Patina, es wird gut altern.
Text: Thomas Müller
Sonderbeilagen ZHAW-Bauprojekte
Die räumliche Entwicklung der ZHAW schreitet stetig voran in Winterthur, Wädenswil und Zürich. Geplant, gebaut oder saniert wird mit unterschiedlichen Anforderungen, Konstellationen sowie Zeithorizonten. Diese und weitere Sonderbeilagen des ZHAW-Impacts informieren fortlaufend über die wichtigsten Projekte und Entwicklungen der ZHAW.