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Soziale Arbeit

«Adoption ist eine Massnahme für den Kindesschutz»

Warum wünschen sich Paare Kinder? Weshalb interessieren wir uns so sehr für unsere biologische Herkunft? Und wann wird das wichtig im Leben eines Menschen? Die Leiterin der Kantonalen Zentralbehörde Adoption und ein Adoptionsforscher geben Auskunft.

Früher stand bei adoptionswilligen Paaren der Wunsch, Eltern zu werden, im Zentrum. Heute gehört auch der gesellschaftliche Auftrag dazu, Kinder- und Jugendhilfe zu leisten. (Bild: Aditya Romansa / Unsplash)

Interview: Regula Freuler 
Illustrationen: Elisabeth Moch 

Welche Bedeutung hat heute ein Kind für seine Eltern? 
Heidi Steinegger: Darüber sprach ich erst kürzlich mit meinem Sohn, als er zum zweiten Mal Vater wurde. Er sprach von Freude, Glück und der Anregung, die Welt mit anderen Augen zu sehen und fasste zusammen: «Sehr egoistisch. Ich stille meine individuellsten Bindungsbedürfnisse.» Das ist eine Seite, die mir im Berufsalltag auch immer wieder begegnet – all diese Dinge, die sehr vom Individuum mit Kinderwunsch getrieben sind. 

Samuel Keller: In der Zürcher Adoptionsstudie, einer Langzeitstudie, die wir 2009 begonnen und nach drei Befragungswellen dieses Jahr abgeschlossen haben, stellten wir den Adoptiveltern diese Frage indirekt auch. Anders als biologische Eltern, müssen sich Paare dazu äussern, die sich in der Eignungsabklärung zu Adoptiveltern befinden. Manche wollen sich damit einen lang ersehnten Kinderwunsch erfüllen. Andere wiederum möchten damit einem Kind trotz schwieriger Startbedingungen eine Familie ermöglichen. 

Das heisst, Adoptiveltern setzen sich intensiver mit dieser Frage auseinander als biologische Eltern? 
Samuel Keller: Mehrheitlich ja. Sie setzen sich aber auch damit auseinander, was die Behörden zu dieser Frage wohl am liebsten hören möchten. Auch ein Unterschied zu biologischen Eltern: Diese beschäftigen sich vor allem in den Monaten, bis sie Kinder bekommen, intensiv mit der Kinderfrage. Bei Adoptiveltern gibt es mehrere Phasen, die zumeist Jahre vor der Adoption beginnen, aber auch immer wieder nach der Adoption auftauchen. Über die Zeit können so laufend neue Fragen an die Bedeutung des Kindes entstehen. Wir haben das in den Analysen der ersten Befragungswelle 2009/2010 die «Trichter-Metapher» genannt. 

Samuel Keller

«Für ein Kind ist relevant, wie das ganze soziale Umfeld gegenüber Adoptionen eingestellt ist – nicht nur die Eltern.»

Samuel Keller, Forscher und Dozent, ZHAW Soziale Arbeit 

Was ist damit gemeint? 
Samuel Keller: Diese Metapher drückt aus, dass viele Paare, die schliesslich ein Kind zur Adoption aufnehmen können, sich davor meistens mehrere Jahre mit Kinderwunschfragen – ansonsten nach wie vor ein tabuisiertes Thema – intensiv auseinandergesetzt haben; theoretisch, biografisch, gesellschaftlich. Wenn ihnen dann schliesslich ein Kind innerhalb weniger Wochen zugesprochen wird, stehen sie vor der grossen Aufgabe, die so entstandenen Erwartungen an sich, das Kind und die Familie, an den kleinen Menschen und die neuen Realitäten anzupassen. Da kann man sich wie in einem engen Trichter vorkommen zwischen dem Kind als Objekt und Subjekt, zwischen dem Explizieren von Privatem und dem Suchen nach Privatheit oder zwischen der Elternschaft als Theorie oder Ideal und Elternschaft als Realität. 

Inwiefern beeinflussen adoptierte Kinder, welche Bedeutung sie für ihre Eltern haben? 
Heidi Steinegger: Für sie reduziert sich die Frage im Prinzip darauf: «Geht es um mich oder geht es um meine Eltern, die ihre eigenen Wünsche realisieren wollen?» Diese Frage wird mit zunehmendem Alter mächtig. 

Heidi Steinegger

«Die gewachsene gesellschaftliche Offenheit gegenüber Mehrfachelternschaften macht mich enorm glücklich.»

Heidi Steinegger ist Leiterin der Zentralbehörde Adoption des Kantons Zürich, der sie seit 2003 vorsteht. Sie ist unter anderem zuständig für Eignungsabklärungen künftiger Adoptiveltern und die Herkunftssuche sowie im Auftrag der KESB für Abklärungen bei Stiefkindsadoptionen und das Führen von Mandaten für Kinder, die zur Adoption frei gegeben werden sollen. 

Beschäftigen sich adoptierte Kinder häufiger oder intensiver mit der Frage, welche Bedeutung sie für ihre Adoptiveltern haben, als Kinder ihrer biologischen Eltern? 
Heidi Steinegger: Diese Frage beschäftigt grundsätzlich alle Kinder, aber bei Adoptierten gibt es eben potenziell folgenreiche Hypothesen, an denen sie hängen bleiben. Zum Beispiel: «Meine biologische Mutter wollte mich nicht, weil ich so aussehe, wie ich aussehe.» Oder wenn es Probleme zwischen Adoptivkindern und -eltern gibt, ist die Annahme «Es ist so, weil ich adoptiert bin» beziehungsweise «... weil unser Kind adoptiert ist» einfacher, als wenn die Eltern einen Erziehungsfehler bei sich suchen müssten. 

Samuel Keller: In unserer Forschung haben wir den Ursprung solcher Hypothesen als «Black box» zusammengefasst. In der dritten und letzten Welle der Zürcher Adoptionsstudie, deren vollständige Ergebnisse wir Ende Oktober der Öffentlichkeit präsentieren werden, haben wir unter anderem sowohl mit adoptierten Kindern und Jugendlichen gesprochen, die sich mit ihrer Herkunft beschäftigen wollen, als auch mit solchen, die das nicht wollen. Denn sie sind sich durchaus darüber bewusst, dass sie dabei auf eine Katastrophe stossen könnten, etwa, dass ihr biologischer Vater ihre Mutter vergewaltigt hat. 

Was hat sich seit dem Start der Adoptionsstudie 2009 im Bereich Familie und Adoption verändert? 
Heidi Steinegger: Sehr viel! Seit 2018 ist die Stiefkindadoption, die dem Kindeswohl entspricht, für Personen legal, die seit drei Jahren einen gemeinsamen Haushalt teilen und bei denen ein Elternteil der rechtliche Vater oder die rechtliche Mutter ist. Sie ist nicht mehr nur eine Möglichkeit für verheiratete Personen mit einem genetischen Elternteil. Seit 2022 gibt es die «Ehe für alle». Sie ermöglicht, dass verheiratete gleichgeschlechtliche Paare gemeinsam ein Kind adoptieren können. Ebenso haben nun gleichgeschlechtlich liebende und verheiratete Frauen Zugang zur künstlichen Befruchtung in Schweizer Samenbanken. In den 21 Jahren, in denen ich die Zentralbehörde Adoption geleitet habe, hat die gesellschaftliche Offenheit gegenüber Mehrfachelternschaften enorm zugenommen. Das macht mich enorm glücklich, weil es nahe am kindlichen Alltag und ein Beitrag zur Gleichstellung ist. 

Ist es heute einfacher, ein adoptiertes Kind zu sein, als noch in den Nullerjahren? 
Heidi Steinegger: Nein, aber was sich stark geändert hat, ist das Motiv von Paaren, ein Kind adoptieren zu wollen. Früher stand der Wunsch, Eltern zu werden, im Zentrum. Heute gehört auch der gesellschaftliche Auftrag dazu, Kinder- und Jugendhilfe zu leisten. Das ist gut so, und ich kann es nicht oft genug betonen: Adoption ist eine Massnahme für den Kindesschutz. 

Samuel Keller: Bis in die 1980er-Jahre galt es in Fachkreisen als das Beste, über eine Adoption – sofern sie nicht sichtbar war – zu schweigen. Von der Idee einer bürgerlichen Normalfamilie abzuweichen, galt damals noch deutlicher als Stigma. Heute sehen wir vermehrt selbstbewusste Adoptiveltern. Das kann befreiend sein für ein Kind und ihm helfen, sein «Anderssein» mit Stolz zu leben. Aber es kann auch als Bürde empfunden werden, zum Beispiel weil man das Gefühl hat, dass die Eltern mit der Adoption primär ihre eigene Weltoffenheit und damit ihre eigene Besonderheit ausstellen wollen. 

Eine Adoption als politisches Statement quasi? 
Samuel Keller: Auf Hinweise für solche unausgesprochenen Motive sind wir auch gestossen in der Studie. Was dabei in Vergessenheit geraten kann: Wenn das soziale Umfeld abwehrend oder gar rassistisch reagiert, kann das zur grossen Belastung werden. Da können Adoptiveltern noch so entspannt eingestellt sein. Es gab mindestens zwei Familien in unserer Untersuchung, die deswegen den Wohnort wechseln mussten. So viel zur gesellschaftlichen Offenheit in der Schweiz. 

Woran liegt es, dass adoptionswillige Paare heute anders eingestellt sind als früher? 
Heidi Steinegger: In erster Linie hängt dies mit der strengeren Regulierung von Adoptionen sowie mit der Aufklärung irregulärer oder illegaler Adoptionen bis in die 1980er-Jahre zusammen. Leider kommt das Egoistische, also der starke Fokus auf Selbstverwirklichung durch ein Kind, mit der Leihmutterschaft wieder durch die Hintertüre herein. 

Sind die Hürden in der Schweiz heute also zu hoch für eine Adoption? 
Heidi Steinegger: Es gibt einfach keine befriedigende Antwort für unfruchtbare Paare mit Kinderwunsch in der Schweiz. Immer mehr Länder werden gesperrt, weil Irregularitäten aufgedeckt werden oder Adoptionsverfahren aus politischen Gründen nicht möglich sind, etwa in Russland und der Ukraine. Darum umgehen immer mehr Paare das Verbot über eine Leihmutterschaftsadoption. Allein im Kanton Zürich behandelte das zuständige Gemeindeamt im Jahr 2023 insgesamt 20 Fälle, während es 2012 erst zwei waren. 

Entschärfen die Möglichkeit, Eizellen einzufrieren, beziehungsweise der Zugang zu Samenbanken denn nicht ein wenig dieses Problem? 
Heidi Steinegger: Sind beide Teile eines Paares unfruchtbar oder können aus anderen Gründen biologisch keine Kinder zeugen, ändern diese Optionen nichts. Dazu kommt: Natürlich ist die anonyme Samenspende in der Schweiz seit 2001 verboten, und Spender müssen sich in einem Register eintragen lassen. Diese Daten werden 80 Jahre lang aufbewahrt. Aber wenn man sagt, dass Kinder ein Recht darauf haben, ihre biologische Herkunft zu erfahren, dann müsste man konsequenterweise Eltern dazu verpflichten, ihre mit einer Spermaspende gezeugten Kinder darüber zu informieren. Die aktuelle Rechtslage lässt dies völlig offen. Das bedauere ich sehr. 

Samuel Keller: Wir können es nur vermuten, aber es gibt Hinweise darauf, dass Spermaspenden immer noch häufig verschwiegen werden. In der Schweiz können auf diese Weise gezeugte Kinder nach 18 Jahren Auskunft über die Daten ihres Spenders anfordern. Das ist also seit 2019 möglich. Bis Ende 2023 gingen lediglich sechs Auskunftsbegehren ein – und das, obwohl jedes Jahr mehrere Tausend Kinder aus Spermaspenden geboren werden. Was ich für die Perspektive der Kinder auch problematisch finde: Spender können eine Kontaktaufnahme verweigern. 

Warum können Kinder erst mit 18 Auskunft verlangen? Das ist nicht in allen Ländern so. 
Heidi Steinegger: Der Grund ist, dass sonst Vaterschaftsklagen erhoben werden könnten. In der Schweiz fokussiert man eben immer noch stark auf die biologische Herkunft und redet zu wenig über mehrfache Elternschaft, «Ehe für alle» hin oder her. Aber das liesse sich gesetzlich ändern. Es wäre auch nötig, denn 18 ist viel zu spät. 

Samuel Keller: Dem kann ich nur beipflichten. Die Forschung zeigt klar, dass einige Kinder schon sehr früh nach ihrer Herkunft fragen, manchmal konkrete Fragen zum «Bauchmami» haben oder zu möglichen Gründen für ihre Adoptionsfreigabe, öfter aber fragen sie indirekt. 

Wie wichtig ist für ein Kind das Wissen über seine biologische Herkunft? 
Heidi Steinegger: Ich habe noch keine adoptierte Person erlebt, die sich niemals Gedanken darüber gemacht hat, woher sie kommt. Es ist ein urmenschliches Bedürfnis, das unserem Leben Sinn gibt. Die eigene Persönlichkeit ergibt sich logisch aus der genetischen Determinierung und lebenslangem Lernen. Dabei kann es zwischen biologischen Geschwistern grosse Erinnerungsunterschiede zum selben Fakt in der Vergangenheit geben. 

Samuel Keller: Diese Frage wird oft falsch fokussiert gestellt, etwa indem Vergleiche zu ganz anderen Kulturen oder Jahrhunderten gezogen werden. Ich betrachte die Frage vielmehr gesellschaftlich: Für ein Kind ist es immer auch relevant, wie das soziale Umfeld gegenüber der Herkunftsfrage, Adoptionen oder Spermaspenden eingestellt ist. Man kann sich als Adoptiveltern, Mehrfacheltern oder Ein-Eltern-Familie noch so sehr darüber beklagen, dass wir in einer rückständigen und auf Abstammung reduzierten Gesellschaft leben – das Kind aber muss sich tagtäglich mit solchen Fragen oder Erwartungen zurechtfinden. 

Werden Kinder heute in der Schweiz von ihren Eltern über ihre Herkunft informiert? 
Samuel Keller: Wir sehen in unseren Studien, dass über den Fakt der Adoption weitgehend Transparenz gelebt wird. Dieser Paradigmenwechsel scheint in den Adoptivfamilien angekommen zu sein. Aber warum Kinder zur Adoption weggegeben und aufgenommen worden sind, wissen dennoch viele nicht – und manche wollen es gar nicht wissen. Das ist enorm wichtig zu respektieren: das Recht auf Wissen beinhaltet auch das Recht auf Nichtwissen. 

Wie findet man als Adoptiveltern heraus, was das Kind wünscht? Das klingt nach einer sehr grossen Herausforderung für Adoptiveltern. 
Samuel Keller: Das ist es auch. Denn entscheidend ist nicht nur, dass man seinen Adoptivkindern anbietet, sie über ihre Herkunft zu informieren, sondern auch, wie man es macht. 

Heidi Steinegger: Und zu diesem Zeitpunkt sind die Eltern eigentlich auf sich selbst gestellt. Denn normalerweise dauert die Begleitung einer Adoption nur ein bis zwei Jahre. Das ist etwas, was wir aus der grossen Zürcher Adoptionsstudie gelernt haben: dass wir noch mehr Hilfestellungen bieten müssen, gerade auch in späteren Phasen einer Adoption, und das nicht nur dann, wenn Probleme auftauchen. Wir könnten viel stärker präventiv wirken. Die Latte von guter Elternschaft liegt in unserer Gesellschaft so hoch, damit kämpfen auch viele biologische Eltern. 

Tagung «Aufwachsen mit mehreren Eltern – am Beispiel Adoption» 30./31. Oktober 2024

Alle Ergebnisse der Zürcher Adoptionsstudie (2009 – 2024) werden bei der Tagung «Aufwachsen mit mehreren Eltern – am Beispiel Adoption» am 30./31. Oktober 2024 vorgestellt. 

Die diesjährige Durchführung der Forschungs-, Praxis- und Vernetzungstagung widmet sich dem Aufwachsen mit mehreren Eltern und legt dabei den Fokus auf adoptierte Menschen. Dabei stellen wir uns folgenden Fragen: Welche Lehren können aus der Vergangenheit gezogen werden? Welche Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft sind schon heute anwendbar? Wie sehen Elternschaft und Kindheit in der Zukunft aus? Wir laden Sie dazu ein, mit uns zu reflektieren, zu diskutieren und zu lernen. 

Die Tagung ist eine Kooperationsveranstaltung der ZHAW Soziale Arbeit, des Amts für Jugend und Berufsberatung (AJB), des Bundesamts für Justiz sowie von PACH Pflege- und Adoptivkinder Schweiz.

Programm und Anmeldung