Community Arts: Kunst ist für alle da
Zum gemeinsamen Tanzen, Musizieren oder Malen braucht man keine Ausbildung. Viel wichtiger sind Freude an Kultur und Offenheit. So lautet der Ansatz der Community Arts.
von Sibylle Veigl
Vor einigen Jahren leitete Silke Vlecken einen Rhythmik-Workshop. Die Teilnehmenden waren Kinder mit vielfältigen Beeinträchtigungen. An einen Buben kann sie sich besonders gut erinnern: «Er kam herein, rannte von Trommel zu Trommel. Die grösste gefiel ihm am besten, weil man mit ihr am meisten Lärm machen konnte.» Und wie löste sie dieses Problem? «Es gibt in solchen Projekten keine störenden Menschen», betont die Sozialarbeiterin. Der Bub bekam von ihr Trommelsticks mit grossen, weichen Stoffköpfen, und so konnte er seiner Energie auf dem Instrument freien Lauf lassen, ohne die Gruppe zu dominieren. Einem Mädchen, das lediglich noch einzelne Finger bewegen konnte, band Silke Vlecken einen Stick an den Finger: «Es fing über das ganze Gesicht an zu strahlen, als es damit Klänge erzeugen konnte.»
Es geht ums Miteinander
Community Arts nennt sich dieser Ansatz, auf Deutsch: Kunst in der Gemeinschaft. Es handelt sich um ein Berufsbild, das zwischen Sozialer Arbeit und Kunst angesiedelt ist. Ob es dabei nun um Musik, Tanz, Theater, Malen oder eine andere Kunstform geht – wichtig sind das Miteinander und das Mitmachen, unabhängig von körperlichen, geistigen oder sozialen Fähigkeiten oder finanziellen Mitteln. Es gibt kein Falsch und kein Richtig, und es geht weder um Leistung noch um Meisterschaft wie an der Schule. «Ziel der Community Arts ist es, den Menschen eine Auszeit von ihren Problemen zu ermöglichen», sagt Silke Vlecken.
Sie ist Dozentin für Methoden der Sozialen Arbeit am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der ZHAW. Als ausgebildete Perkussionistin hat sie langjährige Erfahrungen in Community Music. Ab nächstem Jahr leitet sie den ersten CAS in Community Arts, der in der Schweiz angeboten wird. Hierzulande bekannter war bisher die Soziokulturelle Animation. Während diese schwerpunktmässig in der Offenen Jugendarbeit und in den Gemeinschaftszentren zu finden ist, trifft man Community Arts in unterschiedlichen Handlungsfeldern an. Dazu gehören neben der klassischen Soziokultur auch stationäre Einrichtungen wie etwa Alters- und Pflegeheime bis hin zu sozialen Bewegungen.
«Künstlerisches Schaffen gibt dem Menschen grundsätzlich die Möglichkeit, Körper, Geist und Seele in Balance zu halten.»
Die künstlerischen Prozesse in der Gemeinschaft basieren auf Werten wie Respekt, Partizipation, kultureller Demokratie oder Antidiskriminierung. Hierin zeigt sich der historische Hintergrund der Community Arts (siehe Kasten rechts). Diese Prozesse passen sich den Wünschen und Möglichkeiten des Einzelnen an. Es wird nicht gefragt, ob eine Person teilnehmen kann, sondern wie die Teilnahme ermöglicht werden kann.
Community Arts überschneiden sich manchmal mit Formen der Kunsttherapie, jedoch haben sie kein explizit therapeutisches Ziel. Und manchmal entstehen aus kunsttherapeutischen Settings auch Prozesse von Community Arts. Sozialarbeitende nehmen eine vermittelnde und wegbereitende Rolle als sogenannte Community Art Facilitators ein. Deren Grundgedanke lautet: Ich will, dass alle teilnehmen. Deshalb müssen die Facilitators ihre Position stets kritisch hinterfragen, um allfällige Mechanismen der Macht zu erkennen. Denn diese könnten die Teilnehmenden in ihrer Kreativität behindern oder begrenzen. Das bedeutet: Ein Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin muss zunächst das eigene Menschenbild überprüfen.
Fragwürdiges Projekt
Das gelingt nicht immer, wie ein Projekt zeigt, das mit dem vielfach preisgekrönten Dokumentarfilm «Rhythm Is It» weltbekannt geworden ist. Im Jahr 2003 probten 250 Kinder und Jugendliche mit dem britischen Choreografen und Tanzpädagogen Royston Maldoom und Simon Rattle, dem damaligen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, eine Aufführung von Igor Strawinskys Ballett «Le sacre du printemps» ein. Die aus 25 Nationen stammenden Teilnehmenden kamen aus sogenannt schwierigen sozialen Verhältnissen. «Das Projekt erregte natürlich viel Aufsehen», sagt Silke Vlecken, «aber in Fachkreisen wurde es sehr kritisch diskutiert.» So sei dem Choreografen Maldoom vorgeworfen worden, dass er strenge Regeln der Teilnahme vorgegeben und sich nicht bemüht habe, allen Jugendlichen individuelle Unterstützung zu geben, um beteiligt zu bleiben.
Grenzen durchbrechen
Für Community Arts gibt es sehr viele Einsatzmöglichkeiten. «Selbst in der Beratung in einem Sozialdienst können mit Zeichnungen die Beteiligung und das Verständnis der Inhalte erhöht werden», erklärt Silke Vlecken, «denn künstlerisches Schaffen gibt dem Menschen grundsätzlich die Möglichkeit, Körper, Geist und Seele in Balance zu halten.» In der Justizvollzugsanstalt Pöschwies beispielsweise treffen sich Häftlinge in einem Malatelier und durchbrechen mit ihrer Kreativität die Grenzen der Gefängnismauern. Einige wurden bereits in Wettbewerben ausgezeichnet. Sogenannte Kunst hinter Gittern gibt es in vielen Ländern, und sie wird als Mittel zur Resozialisierung angewandt.
Ob es nun um Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, Personen mit Bewegungseinschränkungen, Demenzkranke oder geflüchtete Menschen in einem Massnahmenzentrum geht: Sie alle können mit künstlerischen Ausdrucksformen mehr Selbstwirksamkeit erfahren. Dieser aus der Psychologie stammende Begriff bezeichnet die positive und stärkende Erfahrung, wenn wir mit unseren Handlungen ein Ziel erreichen oder ein Hindernis überwinden. Community Arts sind ein kreatives Mittel dazu.
CAS Community Arts – the Art of Community
Der CAS an der ZHAW (Start: März 2021) vermittelt Theorie und Praxis und richtet sich an Berufsgruppen der Kunst sowie der Sozialen Arbeit. Er wird in Kooperation mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und den Zürcher Gemeinschaftszentren (GZ) durchgeführt.
Wurzeln von Community Arts
Entstanden im anglo-amerikanischen Raum, gehören Community Arts zur Soziokultur. Ihr Ursprung liegt in den Friedens-, Umwelt-, Frauen- und Jugendzentrumsbewegungen der 68er-Jahre. Damals wurde eine Kultur von unten gefordert. Diese sollte basisdemokratisch und ohne staatliche Einflussnahme entstehen sowie für alle zugänglich sein. Zur selben Zeit setzten auch soziale und politische Bewegungen immer öfter künstlerische Mittel ein, um ihre Botschaften in die Öffentlichkeit zu tragen.
An künstlerischen Prozessen teilzunehmen und sich dadurch zu stärken, zu befreien oder ins Gleichgewicht zu bringen, hat neben der individuellen auch eine sozialpolitische Dimension: Kunst ist ein Menschenrecht, so steht es in Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Zu Community Arts gehört auch, mit kreativen Ausdrucksformen gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben, die Diskriminierung sowie Deklassierung bekämpfen wollen.
Mittlerweile hat sich der Fachbereich Community Arts professionalisiert. Er ist in Forschung, tertiäre Bildung und berufliche Weiterbildung eingezogen und wird in Bachelor- und Masterstudiengängen an Kunsthochschulen und Universitäten für Soziale Arbeit angeboten.