Einschreiten bei Grenzüberschreitungen
Kinder und Jugendliche in sozialpädagogischen Institutionen haben ein erhöhtes Risiko, sexualisierte Gewalt zu erfahren. Ein Forschungsteam der ZHAW Soziale Arbeit hat untersucht, wie das geändert werden könnte.
Von Mirko Plüss
Ein Gespräch unter Mitarbeitenden in einer sozialpädagogischen Institution in der Schweiz. Die Mitarbeitenden diskutieren: Ist es erlaubt, sich beim Gute Nacht sagen neben die Kinder aufs Bett zu setzen? «Ich habe das gerade am Wochenende gemacht», sagt jemand. «Das machen wir oft», sagt eine andere Mitarbeitende. Eine weitere Mitarbeitende hält indes fest: Laut Schutzkonzept der Institution sei es eigentlich verboten, sich aufs Bett zu setzen.
Dieses Gespräch fand im Rahmen des ZHAW-Forschungsprojekts «Institutionelle Prävention vor sexueller Gewalt in sozialpädagogischen Institutionen» statt. Es zeigt exemplarisch die Herausforderungen bei der Gestaltung von Nähe und Distanz in sozialpädagogischen Institutionen. Sich aufs Bett zu setzen, mag für eine Betreuungsperson mit langjähriger Beziehung zu einem Kind vielleicht unproblematisch erscheinen. Gerade kleinere Kinder, die jahrelang in einer Institution leben, brauchen auch Körperkontakt. Doch was bedeutet es für die Prävention sexualisierter Gewalt, wenn dies von Mitarbeitenden unterschiedlich gehandhabt wird? Können damit Situationen von Nähe ausgenutzt werden, um Grenzüberschreitungen zu begehen?
Teil eines nationalen Aktionsplans
Es war lange ein blinder Fleck in der Forschung: Kinder und Jugendliche, die in sozialpädagogischen Institutionen leben, sind laut internationalen Studien einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Betroffene sexualisierter Gewalt zu werden. Diese kann sowohl durch die Mitarbeitenden und die Heimleitung als auch durch Gleichaltrige ausgeübt werden. In der Schweiz gibt es dazu kaum Untersuchungen. Medial ist sexualisierte Gewalt in sozialpädagogischen Institutionen oft nur bei Einzelfällen Thema. Oder es kommt lediglich dann zur Sprache, wenn Missbrauchsfälle aus früheren Jahrzehnten aufgearbeitet werden.
Was sind Schutz und Risikofaktoren sexualisierter Gewalt in sozialpädagogischen Institutionen? Welche Strukturen wirken begünstigend? Was kann getan werden, um Betroffene künftig effektiv zu schützen? Mit solchen Fragen beschäftigen sich die Forschenden verschiedener Institute der ZHAW Soziale Arbeit in ihrem Projekt. Geleitet wird es von Lea Hollenstein vom Institut für Sozialmanagement, finanziert vom Eidgenössischen Büro für Gleichstellung. Das Projekt läuft in allen Landesteilen und ist Bestandteil des Nationalen Aktionsplans des Bundes gegen sexualisierte Gewalt.
Analyse von Konzepten
Die Ergebnisse werden im Frühling 2025 präsentiert, doch Teilberichte geben bereits jetzt einen Einblick. So wurde in einem von Daniela Reimer vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie und Lea Hollenstein geleiteten Projektmodul untersucht, welche Konzepte zu Gewaltschutz und Sexualpädagogik in sozialpädagogischen Institutionen in der Schweiz vorhanden sind und wie diese umgesetzt werden.
Neben der Analyse dieser Konzepte führten die Forschenden mit Mitarbeitenden Gruppendiskussionen wie die eingangs erwähnte sowie Interviews mit Leitungspersonen durch. «Bei den ausgewählten Institutionen war ein grosses Interesse da, sich dem Thema zu widmen», sagt Susanne Businger vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie. Die Ergebnisse sind durchzogen: «Wir sind auf Mängel gestossen und teilweise auch auf unzureichende Vorstellungen, wie sexualisierter Gewalt begegnet werden kann.»
Blinde Flecken
Laut dem Bericht ist die Gewaltschutzpraxis in zwölf eingehend untersuchten Institutionen sehr heterogen. Einige würden vorbildlich mit dem Thema umgehen, sagt Businger: «Da wurde sexualisierte Gewalt mit den Mitarbeitenden regelmässig reflektiert und zusammen mit einer Fachstelle ein griffiges Schutzkonzept ausgearbeitet.» Doch andernorts fehle es an grundlegendem Wissen in Bezug auf Sexualpädagogik und sexualisierte Gewalt. Einige Heimleitende äusserten, mit Vorerfahrungen sexualisierter Gewalt bei Jugendlichen überfordert zu sein.
Die Institutionen verweisen jeweils darauf, dass neue Mitarbeitende einen Strafregisterauszug vorweisen müssten. Und auf Verhaltensgrundsätze, die in Schutzkonzepten definiert sind. Die Ergebnisse der ZHAW-Forschenden zeigen, dass solche Konzepte zwar meist vorhanden sind, den Mitarbeitenden jedoch teilweise nicht bekannt sind oder im Berufsalltag wenig Bedeutung haben.
Der Bericht spricht ein weiteres Problem an: «Häufig ballt sich viel Macht bei der Heimleitung, und zum Teil wird nur unzureichend reflektiert, dass auch Heimleitende Grenzüberschreitungen oder sexualisierte Gewalt begehen können.» In einer kleinen Institution war man der Ansicht, dass sexualisierte Gewalt gerade durch die Kleinräumigkeit verhindert werde, da Übergriffe kaum verheimlicht werden könnten. «Aussagen wie diese deuten auf einen blinden Fleck hin», sagt Susanne Businger. Denn eine mögliche Strategie von Tatpersonen sei es ja gerade, vor einer Grenzverletzung viel Nähe herzustellen.
Zudem verhindert oftmals der Ressourcenmangel die Präventionsarbeit. So sind nicht bei allen Institutionen beim Nachtdienst mehrere Mitarbeitende auf der Gruppe. Doch auch unabhängig von den Ressourcen empfiehlt Businger allen Institutionen, ein Schutzkonzept mit einer Fachstelle zu erarbeiten: «Damit können Handlungsanweisungen für den Alltag festgelegt und reflektiert werden. Fehlt ein solches Konzept, macht es dies zusätzlich auch schwieriger, manche Übergriffe von aussen als solche zu erkennen.»
Mögliche Betroffene befragt
Ein weiterer Fokus des Forschungsprojekts liegt auf einer quantitativen Onlinebefragung von möglicherweise Betroffenen. Sie fand im Frühling 2024 statt und wurde von Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention verantwortet. Teilnehmen konnten Erwachsene, die sich als Kind oder Jugendliche:r in einer sozialpädagogischen Institution aufgehalten haben. Dies unabhängig davon, ob sie selbst sexualisierte Gewalt erfahren haben oder nicht.
Primäres Ziel der Umfrage war es nicht, Prävalenzschätzungen vorzunehmen, also Aussagen darüber zu treffen, wie häufig sexualisierte Belästigungen und Übergriffe in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche in der Schweiz überhaupt vorkommen – auch wenn solche Zahlen anhand der Daten erarbeitet werden könnten. «Die Forschung in unseren Nachbarländern zeigt, dass Missbrauch im Umfeld von Kinder- und Jugendheimen verbreitet ist», sagt Baier. «Es wäre also nicht überraschend, wenn wir ebenfalls auf entsprechende Missbrauchsfälle stossen.»
Ihn interessieren bei der Umfrage vor allem andere Aspekte, sagt Baier: «Wie haben die Betroffenen reagiert? Haben sie Anzeige erstattet? Und falls nicht, weshalb?». Zudem erhebe man auch die Reaktionen der Organisationen auf Übergriffe.
Unsicherheit bei angehenden Fachpersonen
«Es geht uns darum, mögliche Opfer zu schützen», sagt Lea Hollenstein. Gleichzeitig sei es auch das Ziel, Mitarbeitende in sozialpädagogischen Institutionen zu stärken. Denn für sie ist sexualisierte Gewalt an oder durch Bewohner:innen eine grosse Herausforderung. «Von Studierenden, die Praktika absolvieren, hören wir immer wieder, dass sie sich bei dem Thema sehr unsicher fühlen und nicht wirklich darauf vorbereitet werden», so Hollenstein.
Die Kinder und Jugendlichen können dabei sowohl Opfer als auch Tatpersonen sein. Viele von ihnen kommen bereits mit Vorerfahrungen in ein Heim. In Deutschland wurde versucht, bei einer landesweiten Befragung Zahlen zu erheben. Unter dem Titel «Sexuelle Gewalterfahrungen von Jugendlichen in Heimen und Internaten» wurden 2018 die Ergebnisse publiziert: Über die Hälfte der Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen und Internaten hat bereits sexuelle Gewalt erfahren.
Zu wenig beratende Stellen
«Es gibt bei der Prävention einen grossen Handlungsbedarf», sagt Lea Hollenstein. Doch nicht nur bei den Institutionen selbst. Die Forscherin wünscht sich auch mehr Aufmerksamkeit aus der Politik: «Sozialpädagogische Institutionen werden mehrheitlich von der öffentlichen Hand finanziert. Bei der Zertifizierung müsste es zukünftig eine Rolle spielen, ob die Institutionen genug zum Schutz der sexuellen Unversehrtheit der Kinder und Jugendlichen unternehmen.» Zudem gebe es bei den Fachstellen einen Mangel: «Es hat zu wenig beratende Organisationen, an die sich Institutionen nach einem Vorfall wenden können.»