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Soziale Arbeit

Gewaltprävention in der Offenen Jugendarbeit – nachhaltige Beziehungsarbeit oder Bevormundung?

Die Jugendkriminalität in der Schweiz steigt seit Jahren. Wie gehen Jugendtreffs mit ihrem Präventionsauftrag um? ZHAW-Absolvent Julian Lutz hat für seine Masterarbeit dazu Sozialarbeitende befragt.

Haben Jugendliche genügend Freiräume, kommt es seltener zu Konflikten. (Bild: iStock)

von Regula Freuler

«Es ist ganz friedlich», beteuert Julian Lutz. Er hat gut reden. Zielstrebig schreitet das Lama an ihm vorbei, quer durch das Tiergehege des Gemeinschaftszentrums Heuried und geradewegs auf die fremde Besucherin zu. Will es einen anspucken? Einem den Schreibblock entreissen mit seinen grossen Zähnen, die es jetzt bleckt? Aus sicherer Distanz fügt der Sozialarbeiter an: «Lamas sind Fluchttiere.» Vielleicht sieht dieses Exemplar hier das anders. Und so ergreift die Besucherin lieber selbst die Flucht.  

Dabei kennt Julian Lutz sich aus mit aggressiven Verhaltensweisen. Der 32-Jährige hat Anfang des Jahres sein Studium an der ZHAW abgeschlossen und die Bestnote für seine Masterarbeit erhalten. Thema: Gewaltprävention in der Offenen Jugendarbeit. Mit einem wissenschaftlich-qualitativen Ansatz hat er in mehreren Gruppendiskussionen untersucht, welche Wissensbezüge und Handlungsstrategien die Jugendarbeitenden der Zürcher Gemeinschaftszentren hinsichtlich Gewaltprävention haben.

«Die Wahrnehmungen driften manchmal weit auseinander. Was als Flirten gemeint sein kann, wird vielleicht als Belästigung erfahren.»

Julian Lutz, Sozialarbeiter MSc

Lutz ist seit sechs Jahren als Jugendarbeiter im GZ Heuried tätig. Daneben ist er regelmässig mit Sip Züri und «Ein Bus» – einem mobilen Rückzugsort für Jugendliche und junge Erwachsene im Ausgang – an Orten unterwegs, die immer wieder in die Schlagzeilen geraten als Brennpunkte der seit 2015 zunehmenden Jugendgewalt. Diese Art der mobilen, aufsuchenden Jugendarbeit ist Teil des Präventionsprojekts «Surplus», welches das Sozialdepartement der Stadt Zürich im Sommer 2019 lancierte.  

Auch die Gemeinschaftszentren sind daran beteiligt. Ziel von «Surplus» ist es, die Konfliktfähigkeit von Jugendlichen zu stärken, um letztlich Gewalt zu vermeiden. Was aber gilt als Gewalt?  Einen wissenschaftlichen Konsens darüber gibt es nicht, ebenso unterschiedlich wird der Begriff in der Praxis verstanden.

Gefühle reflektieren

«Gerade bei Jugendlichen muss man einschätzen können, was noch unter entwicklungspsychologisch sinnvollem Kräftemessen läuft und wann sie die rote Linie überschreiten», sagt Julian Lutz. Doch im Zentrum der Offenen Jugendarbeit steht nicht etwa die Suche nach einer Definition von Gewalt, sondern vielmehr die Reflexion darüber.  

Das betrifft auch andere Konfliktbereiche wie beispielsweise Sexismus. «Die Wahrnehmungen driften manchmal weit auseinander. Was als Flirten gemeint sein kann, wird vielleicht als Belästigung erfahren», so der Sozialarbeiter. «An diesem Punkt setzen wir bei der Präventionsarbeit an: Die Jugendlichen sollen einerseits lernen herauszufinden, was sie selbst empfinden und andererseits, was sie mit ihrem Verhalten auslösen können.» 

Randalierer oder Mitläufer?

Das GZ Heuried wirkt – abgesehen von seinem forschen Lama – wie eine besonders idyllische Ecke der Stadt. Viel Grün, viel familienfreundliche Architektur, und im Radius von einem Kilometer befinden sich elf Schulhäuser. Ist Jugendgewalt hier ein Thema? «Abgesehen von den üblichen Rangeleien gibt es in unserem Treff kaum je Situationen, bei denen wir die Polizei einschalten müssen», bestätigt Julian Lutz den äusseren Eindruck. «Aber Gewalt ist sehr wohl ein Gesprächsthema unter den Jugendlichen.» Kommt es irgendwo in der Schweiz zu Eskalationen und kursieren in den sozialen Netzwerken Videos, wird das diskutiert.  

Manchmal zeigen sie dem Sozialarbeiter Posts und Filmausschnitte. «Wir reden viel darüber, wie ihre Rolle in solchen Situationen aussehen könnte, also ob sie vorne dabei sein möchten oder sich eher als Mitläufer verstehen», erzählt er. «Letztlich geht es um Identitätsfindung.» Dazu gehört, dass der Gewalt auch etwas Attraktives inhärent ist: Sich zu spüren, sich stark zu fühlen.

Machtverhältnisse mitdenken

Mit seiner Masterthesis wollte Lutz eruieren, welche Möglichkeiten die Offene Jugendarbeit der Zürcher Gemeinschaftszentren in den Jugendtreffs bezüglich Gewaltprävention hat und wie diese wahrgenommen wird. Dabei bestätigte sich, was aus der wissenschaftlichen Literatur bekannt ist, nämlich eine verbreitete Skepsis gegenüber Präventionsarbeit bis hin zu deren Ablehnung.

Manche Sozialarbeitende sehen darin einen Zielkonflikt, gewissermassen eine Bevormundung der jungen Menschen. Auch möchte man vermeiden, durch delinquenzorientierte Präventionsarbeit in ordnungsdienstliche Mandate hineingedrängt zu werden. «Darum ist es wichtig für die Offene Jugendarbeit, dass solche Massnahmen von einer machtanalytischen Reflexion begleitet werden», betont Julian Lutz.

Nachhaltig statt projektartig

Welche Empfehlungen lassen sich aus den Gruppendiskussionen, die er für die Masterarbeit geführt hat, ableiten? «Was immer wieder zur Sprache kam, war das Problem der schrumpfenden Freiräume für junge Menschen. Anders gesagt: Wenn es ein bisschen lauter wird, kommt immer irgendwann die Polizei, weil Anwohner sich beschwert haben», so der Sozialarbeiter. Die Schwelle, einen Fall von Nachtruhestörung zu melden, sei in der Bevölkerung gesunken. Dadurch ziehe es Jugendliche zwangsläufig in die Innenstadt, wo das Toleranzlevel höher liegt.

Eine weitere Empfehlung betrifft die Soziale Arbeit selbst. Diese entwickelt oftmals Handlungsformen gegen Jugendgewalt projektartig statt nachhaltig, so Lutz. Das heisst, sobald sich Öffentlichkeit und Politik für das Thema interessieren, wird man aktiv, nach einer Weile jedoch flacht das Engagement ab. «Die pädagogische Debatte über Jugendgewalt beginnt alle paar Jahre von vorn», konstatiert der Sozialarbeiter. Ideal hingegen wäre, Gewaltprävention dauerhaft zu implementieren. Das reiche von gezielten Weiterbildungsangeboten bis zur Förderung des regelmässigen fachlichen Austausches.