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Soziale Arbeit

Housing First in Zürich: Wohnungslosigkeit trifft auf Wohnungsnot

In Nordamerika und einigen europäischen Ländern erweist sich «Housing First» als erfolgreiche Form der Wohnungshilfe. Lässt sich das Modell auch in Schweizer Städte wie Zürich integrieren?

Tannenbaum in der Wohnung
Zuerst die Wohnung, dann die sozialarbeiterischen Unterstützungsangebote: ein Prinzip des Modells «Housing First». (Bilder: Juuso Westerlund)

Von Seraina Kobler 

Der Ansatz ist so naheliegend wie umfassend: Wohnen muss nicht verdient werden. Wohnen ist ein Menschenrecht. «Housing First» wird dieser Ansatz genannt, der in den 1990er-Jahren in den USA entstanden ist. Mit ihm wird sichergestellt, dass wohnungslose Menschen grosse Wahlfreiheit und vielfältige Entscheidungsmöglichkeiten bekommen.  

Er wurde entwickelt für Menschen, die ein hohes Mass an Hilfe benötigen, um die Obdachlosigkeit hinter sich zu lassen. Sie sind nicht nur von dieser einen Problemlage betroffen, sondern gleich von mehreren. Die Wohnungslosigkeit trifft auf multiple Problematiken, die sich auf Gesundheit, Wohlbefinden, soziale Integration und nicht zuletzt das Wohnen beziehen, weshalb diese Menschen einen hohen Bedarf an Begleitung und Unterstützung haben. In der Regel fehlt ihnen auch ein soziales Netzwerk, also Hilfe von Freundeskreis und Familie.  

Wohnung schafft Basis

In dem Sinn stellt bei «Housing First» das Wohnen vielmehr einen Ausgangspunkt dar als ein Ziel. Als Erstes wird den Adressat:innen eine eigene Wohnung zur Verfügung gestellt, dann erst werden individuelle und bedarfsorientierte Unterstützungsmassnahmen mit ihnen vereinbart: von der Strasse direkt in eine eigene Wohnung, ohne Vorbedingung.  

In der Stadt Basel haben seit Mitte 2020 bereits über zwanzig Obdachlose ein eigenes Zuhause bekommen. Thomas Frommherz von der Heilsarmee leitet das Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit der Sozialhilfe und im Auftrag des Kantons. «In fast allen Fällen hat es sich bewahrheitet, dass eine sichere Wohnung den Boden schafft, um überhaupt weiterzukommen», sagt Frommherz.

Die meisten seiner Adressat:innen waren zuvor langjährig obdachlos. «Nun sind wir ihr Rückhalt, um wieder Fuss fassen zu können », weiss Frommherz. In der Praxis bedeutet das oft zuerst einmal Beistand bei der Bewältigung der Flut an Briefen, Bussbescheiden und Mahnungen, die in der Regel eintreffen, wenn es wieder eine feste Adresse gibt. Aber natürlich auch bei Krisen, Rückfällen oder finanziellen Engpässen.  

Obwohl bei «Housing First» die Wohnung als erstes im Prozess stehe, funktioniere die Bezugspersonenarbeit beinahe gleich wie etwa beim betreuten Wohnen, erklärt Thomas Frommherz. Einfach in einer anderen Reihenfolge: Während man bei herkömmlichen Modellen zuerst übe und mit jeder erfolgreichen Phase die Chancen auf eine eigene Wohnung steigen, ist das eigene Zuhause am anderen Ort bedingungslos. 

Erfolgreich erprobtes Modell

Dieser Ansatz findet in Schweizer Städten wie Solothurn, Winterthur, Olten, Luzern und seit neustem auch Chur immer grösseren Anklang. Schon länger bekannt und praktiziert, wird er in anderen Ländern. So wurde «Housing First» in Österreich bereits 2012 im Rahmen der Wiener Wohnungshilfe entwickelt. In dieser Zeit wurden rund 350 Personen erfolgreich betreut, wie die Studie «Hou­­sing First Guide Europe»(PDF 2,3 MB) festhält. Genutzt wurden dafür mehrheitlich Räume des sozialen Wohnungsbaus. Dessen hoher Anteil ist ein klarer Standortvorteil der österreichischen Hauptstadt. Und so sind auch die Zahlen beeindruckend: Eine Auswertung ergab eine Wohnstabilität von über 96 Prozent.  

Vor grösseren Herausforderungen stehen dagegen Städte wie Zürich, wo die Leerwohnungsziffer rückläufig ist und Ende 2023 gerade einmal 0,06 Prozent betrug – das sind 144 Wohnungen. Die Mieten gehören zu den höchsten landesweit. Es verwundert also nicht, dass die Skepsis armutsbetroffener Personen in Zürich im Zusammenhang mit dem Wohnungsmarkt mit 90 Prozent besonders hoch ist.  

Zürich will Erfahrungen sammeln

Dies zeigten Ergebnisse der ersten Schweizer «Coordination nationale» im vergangenen Jahr, einer Studie mehrerer Universitäten sowie des Nationalfonds zum Ausmass der Obdachlosigkeit in den acht grössten Städten der Schweiz. Für die Untersuchung wurden betroffene Menschen ab 18 Jahren in einer quantitativen Face-to-Face-Situation befragt.  

Dennoch überzeugt der Ansatz auch in Zürich, wo in einem Pilotprojekt getestet wird, wie die Prinzipien von «Housing First» in der Stadt umgesetzt werden können. Im vergangenen Jahr startete die Vorbereitungsphase, noch vor den Sommerferien begann die operative Phase. Geleitet wird das Pilotprojekt von den Sozialen Einrichtungen und Betrieben (SEB), wo es dem Geschäftsbereich Wohnen und Obdach angegliedert ist.  

Was ist das Ziel des Projekts? «Wir möchten möglichst breite Erfahrungen sammeln», lautet Stefan Bänis Antwort. Der Leiter Geschäftsbereich Wohnen und Obdach im Sozialdepartement erklärt, wie das Pilotprojekt geplant ist: In einem ersten Schritt werden seit Juli Adressat:innen einer Liegenschaft, die bereits von der städtischen Wohnintegration betreut wurden, neu nach den Prinzipien von «Housing First» unterstützt. Zusätzliches Ziel ist, bis Ende Jahr obdachlose Menschen auch in Einzelwohnungen privater oder genossenschaftlicher Trägerschaften unterzubringen.  

Ausbalanciertes Angebotssystem

Wissenschaftlich begleitet und nach Abschluss evaluiert wird das Pilotprojekt von der ZHAW Soziale Arbeit. Martial Jossi, der diesen wissenschaftlichen Teil leitet, sagt: «Die Wohnungssuche gestaltet sich für sehr viele Menschen in der Schweiz schwierig, vor allem in den Ballungszentren. Personen mit multiplen Problemlagen, die von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit betroffen sind, sind daher besonders belastet.» Gerade deshalb sei der «Housing First»-Ansatz so wichtig, betont Jossi: «Die Teilnehmenden schliessen neu einen eigenen Mietvertrag ab, dann folgt eine individuelle und selbstbestimmte Betreuung durch das zuständige ‹Housing First›-Team.»  

Es zeigt sich auch an diesem Beispiel gut, wie wichtig es ist, den grundlegenden Ansatz von «Housing First» an die jeweiligen örtlichen und sozialen Situationen anzupassen. Zwar hat sich etwa auch in den USA viel getan in den letzten Jahren. Und doch unterscheidet sich das soziale Sicherungssystem stark von dem in der Schweiz oder anderen europäischen Ländern. Wie ist es also möglich, diesen neuen, gänzlich anderen Ansatz von Wohnungshilfe neben dem bereits etablierten System umzusetzen?  

«Hierzulande gibt es bereits viele Angebote, die bereits ähnlich wie ‹Housing First› oder nach einzelnen Prinzipien dieses Ansatzes funktionieren und damit erfolgreich sind», sagt Martial Jossi. Wichtig sei, dass man «Housing First» als ganzheitlichen neuen Ansatz in der Obdachlosenhilfe verstehe. Angebote, die sich danach ausrichten, sollten dementsprechend konzipiert und ausgestaltet werden.  

Ganz konkret werden im Leitfaden «Housing First Guide Europe» die acht Grundprinzipien beschrieben: Wohnen ist ein Menschenrecht; Nutzer: innen müssen sich nicht zu einer Behandlung oder Betreuung verpflichten und sie haben Wahlfreiheit und Entscheidungsmöglichkeiten; das ganzheitliche Wohlbefinden steht im Fokus (Recovery-Orientierung); Drogen- und Alkoholkonsum sind nicht verboten, sondern man versucht in der Betreuung, den problematischen Konsum zu vermindern (Harm-Reduction); aktive Beteiligung ohne Druck und Zwang; personenzentrierte Hilfeplanung; flexible Hilfen so lange wie nötig.  

Angebotssystem weiterentwickeln

Doch wie sieht es mit dem generellen Bedarf für «Housing First» in der Stadt Zürich aus? «Wir verfügen bereits über ein sehr gut ausbalanciertes Angebotssystem, das wir laufend weiterentwickeln», ordnet Stefan Bäni den Ansatz im lokalen Kontext ein. Und zumindest im niederschwelligsten Angebot, der Notschlafstelle, können sie derzeit auch keine signifikante Zunahme von schwer psychisch kranken Obdachlosen feststellen.  

«Dennoch», so Bäni, «leiden 96 Prozent aller erwachsenen Einzelpersonen in unseren Einrichtungen an mindestens einer psychischen Erkrankung.» Dies zeige die gemeinsame Studie des Geschäftsbereichs Wohnen und Obdach und der Städtischen Gesundheitsdienste, kurz WOPP-Studie, aus dem Jahr 2021. Laut dieser Untersuchung hat sich der psychische Gesundheitszustand der Klient: innen weiter verschlechtert.  

In den kommenden Jahren weiterverfolgt wird der «Housing First»-Ansatz auch in Basel. «Wir bleiben hoffentlich dran», sagt Thomas Frommherz. Die Heilsarmee bewerbe sich für das fixe Mandat, in welches das Pilotprojekt bald überführt wird. Hilfreich seien ausserdem neue Bau- und Wohnprojekte sowie Kooperationen wie etwa mit der Christoph-Merian-Stiftung. Auch dort habe «Housing First» bereits einen Funken gezündet.