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Kein Grund zur Sorge?!

«Crime sells» – nicht ohne Grund sind kriminelle Vorfälle in den Medien stets gut vertreten. Das hat Auswirkungen auf die gefühlte Kriminalitätsentwicklung in der Bevölkerung, wie eine Studie der ZHAW zeigt.

von Dirk Baier
Kriminelle Vorfälle erhalten eine hohe Aufmerksamkeit, weil sie unseren Vorstellungen eines friedvollen Zusammenlebens widersprechen, unsere Ordnung stören. Eine Funktion der Berichterstattung ist es, diese Störung sichtbar zu machen, die geltenden Normen und Werte wieder ins Bewusstsein zu rufen und diese damit letztlich zu festigen. Allerdings ist dies nicht die einzige Wirkung der medialen Berichterstattung über Kriminalität: Die starke Präsenz von Kriminalität in den Medien erzeugt ein falsches Bild der tatsächlichen Entwicklungen. Eine schweizweite Befragung des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention konnte dies jüngst belegen.

Kriminalität in der Statistik

Die Entwicklung der Kriminalität lässt sich anhand der polizeilichen Kriminalstatistik nachzeichnen. Auch wenn nicht alle Opfer Anzeige erstatten – etwa bei Bagatelldelikten wie Sachbeschädigungen oder schambesetzten Delikten wie sexuellen Übergriffen –, so erlaubt die Statistik zumindest für schwerere Straftaten wie Tötungsdelikte und Körperverletzungen eine valide Abschätzung der Entwicklung. In den letzten zehn Jahren weist die Statistik unter anderem folgende Trends aus: Mit Blick auf die Straftaten insgesamt lässt sich ein Rückgang um etwa ein Drittel ausmachen. Dies bedeutet, dass es derzeit über 100’000 Opfer weniger gibt als noch vor einigen Jahren. Tötungsdelikte und schwere Körperverletzungen verzeichnen – auf insgesamt sehr niedrigem Niveau – einen leichten Rückgang, Raubtaten und leichte Körperverletzungen einen starken. Auch Diebstähle inklusive  Wohnungseinbrüche sind wie Sachbeschädigungen spätestens seit 2012 im Sinken begriffen. Zunahmen gibt es vor allem im Feld des sogenannten Cybercrime, so etwa bei Betrugsdelikten im Internet.

Die Befragung

Im Frühling 2018 wurde über 10’000 zufällig ausgewählten Erwachsenen per Post ein Fragebogen zugestellt. Ziel war einerseits, herauszufinden, wie häufig sie tatsächlich Opfer von Kriminalität geworden sind. Andererseits lag ein Schwerpunkt darin, zu ermitteln, wie sie Kriminalität wahrnehmen, also ob sie sich Sorgen darüber machen und welche Entwicklung sie wahrnehmen. Insgesamt 2’111 Personen beteiligten sich an der Befragung, was einer für derartige Studien durchschnittlichen Rücklaufquote von 20,1 % entspricht.

Wahrgenommener Kriminalitätsanstieg

Obwohl die Straftaten in der Schweiz zurückgehen, waren sechs von zehn Befragten der Meinung, sie würden ansteigen. Jeder vierte Befragte meinte sogar, dass sie in den letzten zehn Jahren stark zugenommen hätten. Für die einzelnen Deliktbereiche ergibt sich weitestgehend dasselbe Bild: Mehr als die Hälfte der Befragten geht von einem Anstieg aus. Nur in Bezug auf Raubtaten nahmen etwas weniger als die Hälfte der Befragten eine Zunahme wahr. Besonders negativ sind die Einschätzungen in Bezug auf Straftaten, die von Ausländerinnen und Ausländern begangen wurden: Hier gaben mehr als zwei Drittel an, dass diese in den vergangenen zehn Jahren gestiegen seien.

Diese Fehleinschätzungen sind folgenreich, wie sich an weiteren Angaben der Befragten erkennen lässt. So bereitet das Thema Kriminalität jedem zweiten Befragten eher grosse Sorgen. Die Themen Islamismus und Flüchtlinge/Asylbewerber sind dabei noch stärker sorgenbesetzt. Zudem haben nicht wenige Befragte eine persönliche Furcht, selbst Opfer von Straftaten zu werden: Fast jeder zehnte Befragte geht davon aus, ausgeraubt zu werden.

Diese Einschätzungen stehen nicht nur im Widerspruch zur Kriminalstatistik. Auch in der Befragung zeigte sich, dass Opfererfahrungen ein sehr seltenes Ereignis darstellen. Raubtaten hatten etwa nur 0,4 % der Befragten in den letzten zwölf Monaten erlebt, Körperverletzungen 2,1 %, Vergewaltigungen 0,2 %. Gleichwohl: Einige Opfererfahrungen sind deutlich weiter verbreitet, als dies die Kriminalstatistik ausweist, was auf ein relevantes Dunkelfeld hinweist: 10,4 % der Befragten bestätigten, eine Sachbeschädigung erlebt zu haben, 6,0 % einen Diebstahl von Gegenständen oder Geld.

Forderung nach harten Strafen

Eine weitere Folge des gefühlten Kriminalitätsanstiegs ist, dass Forderungen nach harter Bestrafung aufkommen, die als Mittel zur Eindämmung des vermeintlichen Anstiegs betrachtet werden. Aus der Forschung ist bekannt, dass Strafen, die die Resozialisierung in den Mittelpunkt stellen, effektiver sind als solche, die auf Abschreckung und Härte setzen. Für eine differenzierte Betrachtung sind jene Personen, die von einer grassierenden Kriminalität ausgehen, aber nicht mehr empfänglich. Dementsprechend befürworten über zwei Drittel der Befragten härtere Strafen, wobei sich dennoch nur eine Minderheit von 20 % für die Todesstrafe ausspricht.

Auch in Bezug auf Strafgefangene findet sich zum Teil eine weite Verbreitung negativer Einschätzungen: So meinten drei von vier Befragten, dass es den Gefangenen in den Gefängnissen viel zu gut gehen würde. Allerdings dominieren mit Blick auf die Gefangenen nicht nur die negativen Wahrnehmungen. Viele Befragte sprachen sich für das Prinzip der Resozialisierung aus und befürworten einen gefangenenorientierten Vollzug etwa mit Berufs-/Schulausbildung oder kreativen und anderen Freizeitangeboten.

Die Rolle des Medienkonsums

Der Einfluss der Medien auf die Kriminalitätswahrnehmungen lässt sich anhand der Befragungsdaten nachweisen. So findet sich, dass der Konsum von Medien, die dem Kriminalitätsthema einen sehr hohen Stellenwert einräumen, in besonderem Masse dazu beiträgt, einen Kriminalitätsanstieg wahrzunehmen und härtere Strafen zu fordern. Je häufiger Befragte Privatsender sehen oder Boulevard-/Gratiszeitungen lesen, umso stärker äussern sie entsprechende Einschätzungen. Demgegenüber hilft das Lesen überregionaler Tageszeitungen dabei, das Kriminalitätsthema in seinem Stellenwert richtig einzuordnen.

Zusätzlich gilt, dass politisch eher rechts orientierte Befragte besonders häufig die Ansicht teilen, dass die Kriminalität zunimmt. Die Auswertungen ergeben damit einen Hinweis auf eine Art doppelte Instrumentalisierung des Themas Kriminalität: Einerseits nutzen verschiedene Medien dieses Thema, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung für ihre Angebote sicherzustellen. Andererseits nutzen es eher konservative bis rechtsgerichtete politische Akteure, um Wählerinnen und Wähler zu binden. Welche Folgen diese Formen der Instrumentalisierung haben, bleibt abzuwarten. Es ist allerdings fraglich, ob sie einer rationalen Kriminalpolitik zuträglich sind.

Weitere Befunde

Die Befragung wurde zusätzlich genutzt, um Erfahrungen und Einstellungen der Schweizer Bevölkerung zu erheben, die keinen unmittelbaren Bezug zum Thema Kriminalität haben. Hervorzuheben ist dabei etwa, dass 4,3 % der Befragten angaben, Stalking erlebt zu haben – ein Verhalten, das bislang in der Schweiz nicht unter Strafe steht. Hinsichtlich der Folgen auf die Lebenszufriedenheit stehen solche Opfererfahrungen aber beispielsweise Körperverletzungen in nichts nach.

Daneben zeigte sich, dass negative Bilder über Ausländerinnen und Ausländer allgemein, Musliminnen und Muslime im Besonderen, unter Erwachsenen recht verbreitet sind. Es ist daher eine wichtige Aufgabe, bestehende Vorurteile gegenüber verschiedenen Gruppen in der Erwachsenenbevölkerung zu bekämpfen.

Nicht zuletzt erwähnenswert ist, dass ein Drittel der Befragten eine Affinität zu sogenannten Verschwörungsmentalitäten hat, also etwa der Meinung ist, es gäbe geheime Organisationen, die grossen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten. Diese Mentalitäten sind insofern folgenreich, als Befragte mit einer solchen Mentalität stärker extremistischen Standpunkten zustimmen. Sicherlich spielen für die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien Internet und Soziale Medien eine entscheidende Rolle. Umso wichtiger ist es für die Zukunft, solchen Theorien und Mentalitäten in diesen Kanälen noch stärker entgegenzutreten.

Viele der genannten Problemfelder sind gesamtgesellschaftlich zu adressieren. Gleichwohl stellen sie auch Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit dar. Es erscheint deshalb notwendig, die verschiedenen Entwicklungen mittels entsprechender Befragungsstudien weiter zu verfolgen.