Let’s talk about class
Klassendenken ist entscheidend für die Chancen in unserer Gesellschaft. Soziale Arbeit sollte sich kritischer damit befassen, als sie es tut, findet unsere Gastautorin.
Von Susanne Becker
Die professionelle Praxis der Sozialen Arbeit im staatlichen Auftrag – im Gegensatz zur Freiwilligenarbeit – stützt sich auf Gesetze und Reglemente. Diese stufen Menschen als (nicht) anspruchsberechtigt oder als (nicht) hilfsbedürftig ein. Solche Kategorisierungen sind mit dominanten Vorstellungen von Normalität, Handlungsfähigkeit oder Abhängigkeit verflochten. Wenn Sozialarbeitende vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Klassenunterschiede ausblenden, tappen sie in die Falle des Klassismus.
Was ist Klassismus? Es ist die strukturelle Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres sozialen oder ökonomischen Status, beispielsweise armutsbetroffene Menschen und Erwerbslose. Aber sie kann auch Erwerbstätige oder Angestellte treffen. Wie bei anderen Formen der Diskriminierung umfasst Klassismus drei Ebenen: die institutionelle, die kulturelle und die individuelle.
Druck zur raschen Eingliederung
Auf der institutionellen Ebene bewegt sich Soziale Arbeit heute in den Rahmenbedingungen eines aktivierenden Sozialstaates. Dazu gehören reduzierte Sozialleistungen für Armutsbetroffene und Erwerbslose, verschärfte Anspruchsvoraussetzungen und Sanktionsmöglichkeiten sowie verkürzte Bezugszeiten.
Die individuelle Lebenssituation, die subjektiven Erfahrungsräume und persönlichen Lebensentwürfe fallen dem Druck zur raschen Eingliederung vermehrt zum Opfer. Während oftmals nur eine prekäre berufliche Integration erreicht wird, gibt es zugleich eine Gruppe von Langzeiterwerbslosen, die als nicht mehr arbeitsmarktfähig gelten. Diese Personen, die teilweise in Sozialfirmen oder Beschäftigungsprogrammen arbeiten, erleben eine gravierende soziale Abwertung.
Abwertende Stereotypen
Zudem schreibt der aktivierende Sozialstaat die Verantwortung für nicht gelingende berufliche Integration den Individuen zu. Diese Individualisierung von sozialen Problemlagen übersetzt sich in der Sozialen Arbeit durch einen Fokus auf Einzelfallhilfe und Therapeutisierung sowie den Rückzug der Gemeinwesenorientierung.
Zugleich lässt sich eine Einteilung in aktivierbare sowie nicht aktivierbare (oder -willige) Adressat:innen beobachten. Die traditionelle Unterteilung in unverschuldete und selbst verschuldete Arme verbindet sich mit einem stigmatisierenden Urteil über jene Personen, die aufgrund fehlender Bildung oder charakterlicher Eigenschaften auf dem Arbeitsmarkt scheinbar nicht (mehr) gebraucht werden können.
Diese Veränderungen auf institutioneller Ebene gehen mit der Diffusion von abwertenden Begriffen, Bildern und Stereotypen auf der kulturellen Ebene einher. Gewisse mediale und politische Diskurse etablieren ein klassistisches Sprechen über armutsbetroffene und erwerbslose Menschen.
Gutbürgerliche Norm
Die Unterstellung von Faulheit und Arbeitsunwilligkeit sowie die Skandalisierung von Sozialbetrug durch Empfänger:innen von Sozialleistungen sind nur die Spitze des Eisbergs. Mit diesem medialen Diskurs gehen auch klassistische Bewertungen einher, die Menschen, ihren Geschmack und ihre Vorlieben sowie ihre Lebensweisen als von den gutbürgerlichen Normen der Mittelschicht abweichend stigmatisieren. Armutsbetroffene Menschen werden häufig als unqualifiziert, zu wenig flexibel oder einem ungesunden Lebensstil folgend beschrieben.
Auch in der Politik zirkulieren diese stereotypen Darstellungen, denen zufolge die Lebensweisen und (falschen) Lebensentscheidungen dieser Menschen verantwortlich für ihre prekäre Situation wären. Der Soziologe Stefan Wellgraf bezeichnet diese Verbindung eines niedrigen Status mit sozialer Geringschätzung in seinem Buch «Hauptschüler» (2012) als «gesellschaftliche Produktion von Verachtung».
Moralische Bewertung in der Praxis
Der aktivierende Sozialstaat bleibt auch auf individueller Ebene in der Praxis der Sozialen Arbeit nicht wirkungslos. So finden sich Spuren des Diskurses über Armut und Arbeitslosigkeit in Einstellungen und Sichtweisen von Sozialarbeitenden. Sie sind nicht davor geschützt, abwertende Begriffe und Bilder zu verinnerlichen, die sich auf institutionalisierter und auf kultureller Ebene verfestigt haben.
Selbst wohlwollend gemeinte Worte oder Angebote können auf unreflektierten Annahmen zu Hilfsbedürftigkeit oder mangelnden Ressourcen beruhen, die abwertenden Charakter haben und einer problematischen Klientelisierung Vorschub leisten. Solche Einstellungen können sowohl in der Kommunikation mit den sowie über die Adressat:innen hörbar werden. Zusätzlich laufen Sozialarbeitende Gefahr, die durch einen aktivierenden Sozialstaat vorgegebenen Kategorisierungen der Adressat: innen in die (nicht) Aktivierbaren, die Unwilligen oder die Chancenlosen zu verinnerlichen. Diese Einteilung geht in der Praxis mitunter einher mit einer moralischen Bewertung darüber, wer Hilfe verdient und wer nicht.
Mehr Bewusstsein
Wo aber könnte eine klassismuskritische Soziale Arbeit ansetzen? Zum einen sollte die Soziale Arbeit wieder politischer werden. Fundierte Klassenanalysen und das Wissen über strukturelle Ursachen sozialer Ungleichheiten müssen im Studium der Sozialen Arbeit vermittelt werden. Es braucht eine kritische Auseinandersetzung mit der Terminologie des aktivierenden Sozialstaates und den vorherrschenden Klassifikationen des Sozialwesens sowie ein Bewusstsein dafür, dass auch Methoden und Theorien der Sozialen Arbeit klassistischen Trends unterliegen können.
Auf individueller Ebene sollten sich Fachkräfte weiterbilden und mit ihren eigenen Verstrickungen in klassistische Strukturen auseinandersetzen. Dazu gehört auch, sich der eigenen Klassenposition bewusst zu werden und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was der Klassenunterschied zwischen Fachpersonen und Adressat:innen für die Beziehungsarbeit und die Herstellung von Verständnis und Vertrauen bedeutet. Häufig sind etwa Bewertungen darüber, was Sozialarbeitende für die Adressat:innen als erstrebenswert erachten (z.B. betreffend Erwerbstätigkeit, Bildung, Erziehung und Freizeitaktivitäten) in unreflektierte und klassenspezifische Bewertungsstrukturen eingelassen. Um sich dessen bewusst zu werden, braucht es institutionalisierte Reflexions- und Diskussionsräume.
Neue Eventreihe: «Forum S»
Im Herbst 2024 startet an der ZHAW Soziale Arbeit die neue Veranstaltungsreihe «Forum S – Diskurs Reflexion Kritik». In diesem Format werden aktuelle sozial- und gesellschaftspolitische Fragen mit Gäst:innen diskutiert. «Forum S» fördert fachliche Reflexion und kritischen Diskurs. Die Veranstaltung richtet sich an Studierende, Mitarbeitende, Fachpersonen aus der Praxis sowie weitere Interessierte, die sich mit der Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit auseinandersetzen.
SUSANNE BECKER lehrt im Studiengang Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule in Deutschland. Die Soziologin leitet Workshops zu Klassismus und ist Social Justice & Diversity Trainerin. Becker ist die erste Gästin der neuen Veranstaltungsreihe «Forum S».