Reform der Ergänzungsleistungen verunsichert
Müssen meine Erben bezahlen? Muss ich mein Haus verkaufen? Laut Fachleuten in Ausgleichskassen und Sozialversicherungen herrscht Aufklärungsbedarf.
von Regula Freuler
«Erben werden zur Kasse gebeten» und: «Die Kosten werden explodieren!» So lauteten in den vergangenen Wochen die Schlagzeilen bei Medienberichten zur Reform der Ergänzungsleistungen. Am 1. Januar 2021 tritt sie in Kraft. Die Hauptaufgabe der Ergänzungsleistungen (EL) ist die Existenzsicherung zu Hause. Ihr Hauptproblem sind aber die steigenden Kosten für ältere Menschen im Pflegeheim.
Im Jahr 2019 waren es 337 000 Personen in der Schweiz, bei denen entweder die Alters und Hinterlassenenversicherung (AHV) oder die Invalidenversicherung (IV) den Existenzbedarf nicht decken konnte, obwohl die Bundesverfassung dies vorsieht. Rund 5,2 Milliarden Franken wurden ausbezahlt. Seit der Einführung der Ergänzungsleistungen im Jahr 1966 ist der Betrag laufend gestiegen. Mit den neuen Bestimmungen wollen der Bund und die Kantone die Kosten in den Griff bekommen, ab dem Jahr 2030 sollen dank der Reform 400 Millionen Franken eingespart werden. Ist der Warnruf von einer baldigen Kostenexplosion also übertrieben?
Ausfälle abgefedert
«Bei Ergänzungsleistungen wirken sich Veränderungen immer erst sehr langfristig aus», sagt Sozialversicherungsspezialist und ZHAWDozent Uwe Koch. Es wurde auch schon die Befürchtung laut, dass die CoronaKrise Auswirkungen auf die Ergänzungsleistungen haben werde im Fall von Erwerbsunterbrüchen. Koch relativiert: «Wer jetzt seine Stelle verliert, aber in ein bis zwei Jahren eine neue und einigermassen gut bezahlte findet, wird später kaum etwas merken. Dann bleibt das eine kurze Episode aus der gesamten Erwerbstätigkeit, die zudem mit der Arbeitslosenversicherung in der Regel gut abgefedert wird.»
«Älteren Menschen muss man klar kommunizieren: Ihre Erben müssen nichts zurückzahlen, sie erben höchstens weniger.»
Uwe Koch, Dozent ZHAW Soziale Arbeit
Neben der politischen Diskussion zur Kostenfrage, die – laut kritischen Stimmen – mit der Ergänzungsleistungsreform nicht gelöst wird, geben in der Praxis vor allem drei Änderungen zu reden: die Rückerstattungspflicht für Erben, die Einführung einer Vermögensschwelle und die Anrechnung eines übermässigen Vermögensverbrauchs als Vermögensverzicht.
Koch bietet Weiterbildungskurse für Sozialberaterinnen und berater an, die mit der Berechnung von Ergänzungsleistungen befasst sind und sich derzeit mit den Neuerungen vertraut machen müssen. «Diese drei Themen stehen jeweils im Zentrum», sagt er.
Rückerstattungspflicht gibt zu reden
Vor allem was die Rückerstattungspflicht angehe, herrsche ein grosser Aufklärungsbedarf bei den Bezügerinnen und Bezügern von Ergänzungsleistungen. Weil es in der Schweiz keine Pflegefinanzierung gibt, muss ein grosser Teil der Pflegekosten aus dem angesparten Vermögen bezahlt werden. Zudem müssen die Erben die bezogenen Ergänzungsleistungen zurückbezahlen, wenn das Nachlassvermögen über 40 000 Franken liegt.
Von der Rückerstattungspflicht sind vor allem Ehegatten betroffen, bei denen ein Ehepartner im Heim und der andere in der Eigentumswohnung lebt. «Das ist im Prinzip eine unsolidarische Erbschaftssteuer, weil es viel mit Glück zu tun hat, ob man dereinst pflegebedürftig wird oder nicht», findet Uwe Koch.
Eine seiner Kursteilnehmerinnen, die im Sozialdienst eines Spitals arbeitet, berichtete von älteren Menschen, die nicht ins Heim ziehen, weil sie fürchten, ihre Erben finanziell zu belasten. «Das ist dramatisch, weil diese Menschen dringend einer guten Pflege bedürfen», sagt Koch. Darum müsse man ihnen in der Beratung klar kommunizieren: Ihre Erben müssen nichts zurückzahlen, sie erben höchstens weniger.
Vermehrt Schamgefühle
Kritisch sieht er auch die Überprüfung eines übermässigen Vermögensverbrauchs rückwirkend auf jene zehn Jahre, bevor jemand die Altersrente bezieht. Mit der neuen Lebensführungskontrolle würden die Ergänzungsleistungen wieder näher zur Sozialhilfe gerückt, so Koch. «Das dürfte vermehrt zu Schamgefühlen führen. Einige leben lieber unter dem Existenzminimum, als einen ‹Finanz Striptease› zu machen», vermutet Koch aufgrund bisheriger Erfahrungen aus der Praxis und wissenschaftlicher Untersuchungen. «Diese Art von Stigmatisierung ist bedauerlich, denn es besteht genauso ein Rechtsanspruch auf diese Leistungen wie bei der AHV und der IVRente.» Bei verschiedenen Sozialorganisationen wie etwa der Pro Senectute gebe es zwar einen anonymen OnlineRechner, aber davon müsse man erst einmal Kenntnis haben.
Dennoch beurteilt Uwe Koch die Reform unter dem Strich als positiv, weil es trotz Sparauftrag keine massiven Kürzungen gegeben hat. Es wurde nicht ins Existenzminimum eingegriffen, sondern dieses wird neu noch besser gestützt, indem die Mietzinsmaxima erhöht werden. Das bedeutet laut Koch, dass statt wie bisher nur 70 % nun 90 % der Rentenberechtigten ihre Wohnung mit den Ergänzungsleistungen finanzieren können.
Mehr Personal nötig?
Diese positive Einschätzung teilt man auch bei der Sozialversicherungsanstalt (SVA) des Kantons Zürich. «Gerade die Erhöhung der Mietzinsmaxima kommt vielen zugute», sagt Daniela Aloisi, Leiterin Kommunikation. Während in den anderen Kantonen die jeweiligen Ausgleichskassen berechnen, wer wie viel Ergänzungsleistungen bekommt, ist dies in Zürich Sache der Gemeinden beziehungsweise der SVA in deren Auftrag.
Die SVA Zürich hat ihre Kundinnen und Kunden bereits im Sommer schriftlich über die Neuerungen in Kenntnis gesetzt. «Wir haben die Betroffenen auch informiert, dass wir ihren Leistungsanspruch nach altem und nach neuem Recht prüfen. Wenn die Personen nach altem Recht besser fahren, gilt Besitzstand während der dreijährigen Übergangszeit», so Aloisi. Auf die dadurch entstehenden zusätzlichen Aufwände hat man sich bei der SVA Zürich schon seit längerem vorbereitet, Prozesse und ITSysteme wurden angepasst, ebenso gab es interne Schulungen.
Die SVA Zürich bearbeitet für rund einen Drittel aller Gemeinden die Ergänzungsleistungsfälle. Rechnet man wegen der Reform mit einem erheblichen Mehraufwand bei den Prozessen? «Die Durchführung wird auf jeden Fall nochmals anspruchsvoller», sagt Daniela Aloisi. Der Personalbedarf habe sich um 25 % erhöht.
Zuerst die Rechtslage klären
Die Frage nach den zusätzlich benötigten Ressourcen treibt auch Reto Aellig vom Amt für Zusatzleistungen der Gemeinde Pfäffikon um. «Es müssen alle laufenden Fälle dahingehend geprüft werden, ob sie nach bisherigem oder nach neuem Recht besser fahren», sagt der Sachbearbeiter, der letztes Jahr seine Masterarbeit zum Thema Ermessensausübung bei den Ergänzungsleistungen geschrieben hat. Vor allem der Initialaufwand werde gross sein. Welche Ressourcen mittel und langfristig benötigt werden, kann derzeit nicht beurteilt werden.
Bis jetzt haben sich laut Aellig in seiner Gemeinde noch nicht viele Bezügerinnen und Bezüger gemeldet, vielleicht wegen der CoronaKrise. «Die Leute haben im Moment andere Sorgen», vermutet er und stellt fest, dass die Ergänzungsleistungsreform auch in den Medien weniger Präsenz hat als erwartet.
Bezüglich Umsetzung hofft er, dass sich die beteiligten Stellen und Personen kooperativ verhalten und sich absprechen, bevor sie rechtliche Schritte erwägen. «Mit übereilten Einsprachen hat man noch nichts gewonnen. Es ist viel besser, mit uns zuerst Kontakt aufzunehmen und die Rechtslage zu klären», sagt Reto Aellig.
Auf Bundesfonds zurückgreifen
Im Vergleich zu älteren Personen beziehen deutlich weniger Menschen Ergänzungsleistungen zur Invalidenversicherung. «Wir erwarten zwar auch einige zusätzliche Anfragen, vor allem wenn es rund ums Inkrafttreten Anfang 2021 zu Medienberichten kommen sollte. Aber wir werden sie mit den vorhandenen Ressourcen bewältigen können», ist Beatrice Schwaiger von Pro Infirmis überzeugt. Vielleicht werden einige Beratungsgespräche länger dauern als bisher, aber das werde sich im überschaubaren Rahmen bewegen.
Auch bei Pro Infirmis bereitet man sich seit geraumer Zeit auf die Ergänzungsleistungsreform vor. So sprach man die Änderungen schon frühzeitig in den Beratungen an. «Bei uns stehen unter anderem die Mietzinsmaxima im Vordergrund», sagt die Leiterin der kantonalen Geschäfts und Beratungsstelle Zürich.
Eine weitere Neuerung ist für die Klientel von Pro Infirmis ein Thema, nämlich die Berechnung des Lebensbedarfs von Kindern unter 11 Jahren. Dieser wird gesenkt. Für Grossfamilien mit vier oder mehr Kindern bedeute das sehr wohl, dass sie anders rechnen müssen, so Schwaiger. Doch in problematischen Situationen könne man noch auf den Bundesfonds Finanzielle Leistungen für Menschen mit Behinderung zurückgreifen. «Dort können wir punktuell ein Gesuch stellen, zum Beispiel wenn es um die Finanzierung von Freizeitaktivitäten eines Kindes geht», sagt Beatrice Schwaiger. Damit lassen sich allfällige Einschränkungen wieder abfedern.