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Rollentausch im Jugendheim

Partizipation in stationären Erziehungshilfen ist das Thema eines Forschungsprojekts und einer Tagung der ZHAW. Wie Mitbestimmung in der Praxis aussehen kann, zeigt ein Besuch im Kinder- und Jugendheim Laufen.

von Regula Freuler 

Der blaue Stift gleitet quietschend über die Wandtafel. «Hier steht der Kaktus und hier mein Bett…» Während die 17-Jährige einen Plan ihres Zimmers zeichnet, gestikuliert sie lebhaft und ergänzt, was noch fehlt. Mehr Pflanzen zum Beispiel. Allzu viele Möglichkeiten hat sie nicht, um sich im Kinder- und Jugendheim Laufen, wo sie seit zwei Jahren wohnt, persönlich einzurichten. Bei der Dekoration schon, aber die Möbel gehören zur Grundausstattung. Womit wir beim Thema unseres Treffens sind: Wie gelingt Mitbestimmung innerhalb der strukturellen Vorgaben einer stationären Erziehungshilfe? 

Wir befinden uns im Schulzimmer des Kinder- und Jugendheims Laufen, die Pulte sind mit Bildschirmen und Tastaturen ausgestattet, auf den Regalen liegen Malsachen, das Lehrerinnenpult steht unauffällig an einer Wand. Das Heim im Kanton Basel-Land ist seit 2018 in einem hellen Neubau untergebracht. Hier wohnen 18 Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichen Gründen nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können. Aufgeteilt sind sie in drei Gruppen: In der «WG» leben die Jüngeren, von denen die derzeit Jüngste 11 Jahre alt ist, zur Gruppe «JuWo» gehören die Teenager, und «TSA» steht für «Therapiestation für Adoleszente». 

Realität kommt in die Quere

Drei Jugendliche der TSA haben für dieses Frühjahr ein Partizipationsprojekt geplant: Sie und einige ihrer Betreuungspersonen wollen für ein paar Stunden ihre Rollen tauschen. Wir treffen uns, um etwas über ihre Vorbereitungen und Erwartungen zu erfahren. Von den drei Teenagern tauchen aber nur zwei auf zum Gespräch. Sozialpädagoge Alexander Peutz hebt entschuldigend die Schultern. Wer solche Projekte durchführen wolle, müsse Unvorhergesehenes einberechnen. «Die Absichten können noch so gut sein, doch die Realität kann einem immer in die Quere kommen», sagt er. «Das ist einer der häufigsten Gründe, weshalb Partizipation manchmal schwierig ist. Alle Fachpersonen in Heimen kennen das.»

«Als Betreuende nehmen wir eine Doppelrolle ein: Einerseits verstehen wir die Anliegen der Jugendlichen und möchten ihnen nachkommen, andererseits haben wir einen Schutzauftrag.» 

Alexander Peutz, Sozialpädagoge FH im Kinder- und Jugendheim Laufen

ZHAW-Dozent Samuel Keller kann das bestätigen: «Partizipation ist nicht unmöglich – aber es ist eine Herausforderung.» Gemeinsam mit Julia Rohrbach und Stefan Eberitzsch vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie führte er das Forschungs- und Entwicklungsprojekt «Wie wir das sehen» durch. An einer Tagung im Juni werden die Ergebnisse und weitere Inputs präsentiert und in Workshops diskutiert.

In den Alltag einbetten

Hauptziel des ZHAW-Projekts war es, die Perspektive der jungen Menschen zu beleuchten sowie Ansätze und Möglichkeiten zur Umsetzung zu entwickeln. «Wichtig ist, dass Partizipation im Alltag erfahrbar wird», betont Samuel Keller. Einmalige Projekte oder ein Heim-Rat, der einmal pro Monat tagt, seien gut und wichtig. «Aber diese stark kanalisierte Form reicht nicht. Die jungen Menschen sollten in alltäglichen Bedürfnissen wie Essen, Privatsphäre und Bildschirmzeiten ihrem Bedürfnis nach Mitbestimmung Ausdruck verleihen können.» Dazu hat das Forschungsteam eine Aktionsbox mit Stickern und Plakaten entwickelt, die bereits von mehreren Dutzend Heimen bezogen wurde.  

«Es ist wie in jedem demokratischen Prozess: Partizipation bedeutet Reibung, und man wird ab und zu enttäuscht.»

Samuel Keller, ZHAW-Dozent und -Forscher 

Abgesehen von vollen Tagesplänen: Warum ist Partizipation so schwierig? «Manche Fachpersonen verwechseln sie mit totaler Selbstbestimmung oder Laisser-faire», weiss Keller. «Dabei geht es im Grunde um Aushandlungsmöglichkeiten.» Das sei letztlich auch eine Chance für Heime, ihre Regeln zu überdenken und sich zu fragen, ob sie diese richtig priorisieren.  

Das ist nicht einfach. Es braucht die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion – und Zeit. Laut Samuel Keller dauert es rund drei Jahre, um in einem Heim ein neues Modell zu implementieren, und rund 30 Prozent des Personals kündige dabei. «Es ist wie in jedem demokratischen Prozess: Partizipation bedeutet Reibung, und man wird ab und zu enttäuscht», sagt Keller.

Herausfordernde Doppelrolle

Das weiss auch Sozialpädagoge Alexander Peutz: «Man bemüht sich, macht Angebote, entwickelt mit den Jugendlichen Ideen – aber wenn es um die Umsetzung geht, verlieren sie das Interesse. Das muss man aushalten können und sich fragen, warum das so ist.» Damit spricht er einen anderen wichtigen Punkt an: Partizipation sollte ein offener Prozess sein. Geduld ist gefragt. «Wenn es harzt, gerät man in Versuchung, einzugreifen und das Ganze zu steuern», sagt Peutz.  

Normalerweise sollte man dem widerstehen. Aber nicht immer. Und zwar wegen der Doppelrolle, die das Betreuungspersonal einnimmt: «Einerseits verstehen wir die Anliegen der Jugendlichen sehr gut, etwa ihren Wunsch nach einem Türschloss für mehr Privatsphäre, und möchten ihnen nachkommen. Andererseits haben wir einen Schutzauftrag und müssen das Zimmer schnell betreten können, wenn wir eine Gefährdungssituation vermuten.» Deshalb bleiben die Türen ohne Schloss. Jedoch wird gemeinsam vereinbart, wie Betreuende sich anmelden, bevor sie ein Zimmer betreten dürfen – und in welchen Notsituationen sie allenfalls die Abmachung brechen dürfen.

«Nicht alles lässt sich in der Gruppe diskutieren und aushandeln.» 

Rahel Zenklusen, Lehrerin und Psychologin MSc im Kinder- und Jugendheim Laufen

Ein weiterer Dauerbrenner: das Essen. Abends kochen die Jugendlichen selbst, am Mittag hingegen wird für sie gekocht. Die Abstimmung der Menüs, was und wie viel eingekauft wird und was eine genussvolle, aber vielseitige Ernährung ist, wird regelmässig diskutiert.  

Schwierig ist hingegen eine gemeinsame Absprache beim Thema Ausgang. «Warum wer wie lange am Abend wegbleiben darf, hat viel mit der individuellen Situation der Jugendlichen zu tun, und diese ist oftmals vertraulich», sagt Rahel Zenklusen. «Nicht alles lässt sich in der Gruppe aushandeln.» Da ist sie wieder, die herausfordernde Doppelrolle. 

Chancen des Rollentauschs

Zenklusen ist Psychologin und Lehrerin und ebenfalls am Rollentausch-Projekt beteiligt. Beim Treffen im Schulzimmer klappt sie den Laptop auf und zeigt eine Powerpoint-Präsentation der Jugendlichen. Darin sind Rollenaufteilung, Tagesablauf und Ziele ausgeführt. Und natürlich auch die Regeln. Zwei stehen in Grossbuchstaben da: «KEINE GEWALT!!!» Und: «KEINE FIESHEITEN.»   

Der Rollentausch selbst war ein Vorschlag der Jugendlichen. Zu ihrem Persönlichkeitsschutz vereinbaren wir für diesen Text Pseudonyme: Skylar und Tom, das wünschen sich die beiden 17-Jährigen als Namen. Welche Rollen haben sie für sich vorbereitet? «Mir war sofort klar, dass ich jemanden spiele, der nervt», sagt Skylar und kichert. Zum Beispiel jemanden, der sie am Morgen laut weckt und die Vorhänge in ihrem Zimmer aufreisst. «Oder der ganz allgemein laut und sehr bestimmt mit mir redet.» Sie überlegt kurz. «Das hat viel mit meiner Geschichte zu tun. Ein solches Verhalten stresst mich. Im Rollentausch könnte ich vielleicht zeigen, wie ich es lieber hätte.»  

Tom wiederum will einen bestimmten Betreuer spielen. «Ich kann dann einige seiner lustigen Sprüche verwenden, zum Beispiel ‹Du bisch doch e halbi Hose›.» Der junge Mann lacht vorfreudig. 

Blinde Flecken erkennen

Wie die Erfahrungen aus dem Rollentausch-Projekt verwertet werden sollen, steht noch nicht fest. Für Peutz ist es auf jeden Fall eine Chance, um allfällige blinde Flecken zu erkennen. Er und Rahel Zenklusen, aber auch die Jugendlichen sind gespannt, wie sie mit Widerständen und Konflikten während des Rollentauschs umgehen werden. Zum Beispiel: Ein «Jugendlicher» kommt nicht in die Gänge. Oder er beharrt beim Einkaufen quengelnd darauf, einen Energy-Drink zu bekommen.   

Für besonders schwierige Situationen haben sie Notfallszenarien eingerichtet. Bei einer zum Coach ernannten Betreuungsperson können sich die «richtigen» Jugendlichen Ratschläge holen. Und falls sich jemand überfordert fühlt, gibt es ein Safeword, mit dem man den sofortigen Abbruch des Experiments einleitet. «Auch sonst wäre es manchmal nicht schlecht, wenn wir ein Safeword hätten, nicht wahr?», fragt Alexander Peutz in die Runde. Das einhellige Lachen ist Antwort genug.