Theorie
Sozipedia – Kolumne über Fachbegriffe auf Abwegen
«Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.» – Kurt Lewins Bonmot zeugt nicht nur von Humor im Umgang mit dem oft gehörten Vorwurf der Praxisferne. Der berühmte Sozialpsychologe adressiert damit auch eine zentrale Kompetenz der Sozialen Arbeit: Die Fähigkeit der Praktiker:innen, mit wissenschaftlichen Denkgebäuden, die von einer unmittelbaren Umsetzung losgelöst sind, situationsgemäss umzugehen.
Etymologisch geht der Begriff «Theorie» auf das lateinischgriechische theōria zurück, was das «wissenschaftliche, geistige Anschauen» beziehungsweise das «Zuschauen» beschreibt. Theoriebildung bedingt also eine bewusste Distanz zur Praxis: Wer bei etwas zuschaut, kann nicht gleichzeitig aktiv daran mitwirken. Nur durch Distanz zum Detail gelingt es, übergeordnete Zusammenhänge zu sehen und zu benennen. Der Duden vermerkt dazu, «Theorie» sei die «Lehre über die allgemeinen Begriffe, Gesetze, Prinzipien eines bestimmten Bereichs der Wissenschaft».
Doch warum ist eine gute Theorie nun praktisch? Etwa, weil sie uns in der Sozialen Arbeit konkrete Handlungsanweisungen in einer komplexen Fallkonstellation geben kann? Nein, das Gegenteil ist der Fall: Theorie entfaltet ihre Praktikabilität immer losgelöst von der unmittelbaren Umsetzung. Sie schult unsere Fähigkeit, in einer realen Fallkonstellation unterschiedliche Wissensbestände und Deutungsmuster zueinander in Bezug zu setzen. Die Professionstheoretiker Bernd Dewe und Hans-Uwe Otto betonen dazu: «Im Zentrum professionellen Handelns steht nicht das wissenschaftliche Wissen als solches, sondern die Fähigkeit der diskursiven Auslegung und Deutung von lebensweltlichen Schwierigkeiten mit dem Ziel der Entscheidungsbegründung unter Ungewissheitsbedingungen.»
Professionalität kommt somit nicht dadurch zum Ausdruck, dass wir in der Lage sind, Theorie anzuwenden. Vielmehr ist die Fähigkeit gefragt, Theorie zu verwenden – sie also bewusst in Bezug zu den komplexen Realitäten der sozialen Wirklichkeit zu setzen und auf dieser Basis begründet zu entscheiden.
Vereinfacht gesagt: Theorie ist die Landkarte, an der wir uns beim Wandern orientieren. Ohne sie finden wir kein Ziel. Die Karte sagt uns aber nicht, ob es regnet oder neblig ist, wie lange wir für den Weg benötigen und mit welchen unvorhergesehenen Problemen wir unterwegs konfrontiert werden. Gute Wander:innen können sowohl mit der Karte, als auch mit den Herausforderungen des Weges souverän umgehen.
Die Kolumne als Podcast
Wollen Sie mehr hören über Fachbegriffe der Sozialen Arbeit hören, deren Bedeutung im Laufe der Jahre durch häufigen Gebrauch vielleicht verwässert wurde?
Martin Biebricher, Co-Studiengangleiter Bachelor, spricht mit Menno Labruyère, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Digital Campus und ausgebildeter Sozialarbeiter, im gleichnamigen Podcast regelmässig über Fachbegriffe auf Abwegen.
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