Wen interessiert schon diese Armut?
Sorgen wegen sinkender Kaufkraft und die Angst vor sozialem Abstieg im Mittelstand beschäftigen die Medien. Dabei werden prekäre Lebenswelten und strukturelle Not oftmals ausgeblendet.
Von Nina Brüesch
Ist das Thema Armut im Mainstream angekommen? So schien es zumindest in diesem Frühjahr, als sich die Medien über Wochen hinweg damit beschäftigten. Aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten sei nun auch der sogenannte Mittelstand von Armut bedroht; selbst Ausbildung und Arbeitsstelle würden nicht mehr vor der Armutsfalle schützen.
Die Beispiele armutsbetroffener Menschen, von denen in den Medien zu lesen, sehen und hören war, schreckten auf: Schicksalsschläge wie Erkrankungen, Unfälle, Sucht, Tod von Ehepartner: innen, Kündigung und Scheidung können ein Leben auf den Kopf stellen. Die Porträtierten berichteten von ihrem Alltag, von Sorgen und Ängsten, Verzicht, Ausgrenzungserfahrungen, wenig Perspektiven und vielen Belastungen. Das zeigt, welche Risiken derzeit durch die Ausrichtung des Sozialstaates nicht genügend abgesichert sind und wie diese Menschen weitgehend ihrer Eigenverantwortung überlassen werden. Abstiegsängste ziehen immer weitere Kreise in der Gesellschaft.
Arbeit prekär – Leben prekär
Dass Armut in Medien und Öffentlichkeit thematisiert wird, ist wichtig, weil sie dadurch ein Stück weit enttabuisiert wird. Aber: Es werden oftmals diejenigen Lebenswelten vergessen oder gar absichtlich ausgeblendet, die von tiefgreifenden strukturellen gesellschaftlichen Problematiken gekennzeichnet sind. Sie sind kein neues Phänomen, kommen aber im medialen und oftmals auch im politischen Diskurs kaum vor, weil dieser sich primär am Mittelstand orientiert.
Mit diesen Lebenswelten beschäftigen wir uns am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe im Rahmen von qualitativ ausgerichteten Evaluations- und Forschungsprojekten immer wieder. Eines dieser Projekte war unsere qualitative Studie «Förderung der Qualifizierung Erwachsener: armutsgefährdete und -betroffene Personen in ihren Lebenswelten erreichen», die wir 2023 im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen durchgeführt haben.
Das Ziel der Studie bestand darin, ein vertieftes Verständnis der Lebenswelten und der (Bildungs-)Bedürfnisse von armutsbetroffenen und -gefährdeten Menschen zu erlangen. Prekäre Lebenslagen sind geprägt durch einen instabilen und riskanten sozioökonomischen Zustand, das heisst, die Betroffenen leben sowohl in prekären Arbeitsverhältnissen als auch in prekären Lebensverhältnissen. Weder sind sie gänzlich gesellschaftlich integriert noch gänzlich ausgeschlossen. Manche von ihnen bewegen sich schon seit Jahren knapp oder deutlich unter dem Existenzminimum. Die sogenannten working poor arbeiten in der Regel, tun dies aber in ungesicherten Arbeitsverhältnissen und zu einem kaum existenzsichernden Lohn.
Keine Absicherung in Krisenfällen
Wir haben mit Menschen gesprochen, die im Stundenlohn, auf Abruf, mit befristeten Verträgen oder gezwungenermassen zu sehr niedrigen Pensen arbeiten. Meistens gehen sie mehrere Arbeitsverhältnisse parallel ein, um sich finanziell über Wasser zu halten. Auch kann es sein, dass sie 100 Prozent oder mehr arbeiten und das Einkommen trotzdem nicht reicht. Die Personen arbeiten vorwiegend im Niedriglohnsektor, was bedeutet: wenig Geld, wenig sozialversicherungsrechtliche Absicherung und wenig Jobsicherheit.
Hinzu kommen gesundheitliche Risiken aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen, körperlich harter Arbeit und hoher Tagessolls. Wir haben mit einer verheirateten Frau und Mutter gesprochen; die Familie lebt vom Einkommen des Mannes, der sechs Tage pro Woche unregelmässig tags und nachts in einem prekären Arbeitsverhältnis tätig ist. Sie ist zu einem niedrigprozentigen Pensum bei einem privaten Arbeitgeber beschäftigt. Die Finanzen der Familie bewegen sich unter dem Existenzminimum, eine unvorhergesehene Rechnung könnte nicht bezahlt werden.
Stetiger finanzieller Engpass
Ähnlich geht es einer weiteren Frau, die wir interviewt haben. Sie arbeitet zu einem Stundenlohn von 19 Franken niedrigprozentig am Abend in der Reinigung und pflegt ihren chronisch kranken Mann, der eine kleine IV-Rente erhält. Nachdem ihre günstige Wohnung gekündigt wurde, musste sie in eine deutlich teurere umziehen.
Doch nicht nur die Arbeits-, sondern auch die weiteren Lebensverhältnisse können es erschweren, ein existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften: schlechte Wohnverhältnisse, Betreuungsaufwand für Kinder, Analphabetismus, gesundheitliche Problematiken, fehlende Ausbildung oder nicht anerkannte Bildungsabschlüsse. Hier handelt es sich also um Personen, die sich nicht nur in einem stetigen oder wiederkehrenden finanziellen Engpass befinden, sondern bei denen teilweise hochkomplexe und verfestigte Problemlagen vorliegen.
Krisen wie die Covid-Pandemie, aber auch krankheitsbedingte Einkommensausfälle oder unerwartete Rechnungen führen eine solche ohnehin schon knapp gelungene Alltagsbewältigung in die Ausweglosigkeit. Finanzielle Rücklagen fehlen bei den meisten. Manchen bleibt der Weg zur Sozialhilfe versperrt, seien dies Sans-Papiers oder Menschen, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keinesfalls mit dem Sozialamt in Kontakt kommen wollen.
Dieser Umstand wird gefestigt durch Misstrauen gegenüber Behörden und Scham über die eigene Situation. Es gibt auch Beispiele, bei denen das unregelmässige Einkommen immer knapp unter, am und dann wieder über dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum liegt und bei denen wegen des hohen administrativen Aufwandes auf den geringen Sozialhilfeanspruch verzichtet wird.
Aufstiegsprozesse in Gang setzen
Bei unseren Forschungsprojekten begegnen uns auch immer wieder Menschen mit einer beeindruckenden Anpassungsfähigkeit und grossem Durchhaltewillen. Manchen gelingt es, ihre prekären Lebenslagen zu stabilisieren und – wenngleich selten und nur unter günstigen Bedingungen – einen Aufstiegsprozess in Gang zu setzen. Die angewandten Strategien sind vielfältig: Manche Personen können auf Familien- und Communitysolidarität zurückgreifen, andere nutzen nicht-staatliche Angebote von Kirchen oder NGOs, oder sie suchen selbstorganisierte Kollektive und Lebensmittelabgabestellen auf.
Wiederum andere vermieten Zimmer unter oder übernehmen Kleinstjobs wie Kinderhüten in der Nachbarschaft. Und natürlich verzichten diese Menschen auf vieles –auf allen Ebenen. Ein Beispiel für günstige Bedingungen und einen enormen Einsatz persönlicher Ressourcen, das wir im Forschungsprojekt angetroffen haben, ist eine Frau mit Status F.
Sie lebt allein in der Schweiz, bewohnt ein preisgünstiges Zimmer, arbeitet bei zwei Temporärbüros und lebt deutlich unter dem Existenzminimum. Doch sie ist sozial stark vernetzt, nimmt an Vereinsaktivitäten teil, kennt Unterstützungsangebote und besucht eine Lernstube, um sich Computerwissen anzueignen. Wegen ihres Engagements als freiwillige Köchin hat die Kirche ihr einen SRK- Pflegehelfer:innenkurs finanziert, dank dem sie einen besser bezahlten Job gefunden hat.
Versperrte Zugänge
Es gibt auch immer wieder Betroffene, welche die ihnen zustehenden Unterstützungsleistungen nicht kennen. Dazu gehören insbesondere Prämienverbilligungen, aber auch Alimentenbevorschussung, Stipendien oder die Kulturlegi. Oftmals ist die finanzielle und organisatorische Unterstützung für Aus- und Weiterbildungen bei Personen ohne institutionelle Anbindung wenig chancenreich.
Wenn sie im Rahmen von Arbeitslosenversicherung oder einem früheren Sozialhilfebezug Unterstützung erhielten, äusserten sie auch, dass ihre Ressourcen und Ziele nicht wahr- und ernstgenommen worden seien und die staatlichen Angebote nicht auf den Aufbau von Beschäftigungsfähigkeit ausgerichtet gewesen wären.
Ihre Handlungsspielräume bleiben begrenzt und lassen sich manchmal selbst durch grösstes Engagement nicht erweitern. Weil es in ihrer Situation mit Risiken verbunden ist, staatliche Unterstützungsleistungen in Anspruch zu nehmen – etwa bei Personen mit prekärem Aufenthaltsstatus – bleibt die Hoffnung auf eine bessere Arbeitsstelle aussichtslos.
In den 80 Gesprächen, die wir für die Studie «Förderung der Qualifizierung Erwachsener: armutsgefährdete und -betroffene Personen in ihren Lebenswelten erreichen» geführt haben, wurde deutlich, dass verschiedene Hürden den Zugang zu einer weniger prekären Arbeit erschweren.
Geringqualifizierte Menschen oder solche ohne anerkannte Bildungsabschlüsse haben kaum Chancen auf Stellen ausserhalb des prekären Niedriglohnsektors. Entsprechend verlangte Diplome, Zertifikate oder Weiterbildungen sind für viele Betroffene unerreichbar, einerseits aufgrund der Lebenssituation und andererseits aufgrund erschwerter oder sogar versperrter Zugänge zu qualifizierenden Massnahmen. Zu gross ist der Druck, die Existenz eigenständig zu sichern, da sie ihren ausländerrechtlichen Status sichern oder verbessern wollen.
Niederschwellige Angebote gefragt
Dies kann dazu führen, dass bildungsorientierte Pläne zurückgestellt oder angepasst werden müssen. Die Geburt von Kindern wirkt sich unter diesen Umständen erschwerend auf die Situation aus. Während die Väter mit einem möglichst hohen Pensum im Niedriglohnsektor versuchen, das Einkommen zu sichern, verharren die Mütter in kleineren Arbeitspensen, da sie den Grossteil der Care-Arbeit übernehmen. Dabei verpassen beide Elternteile die Möglichkeit, Bildungspläne aufzunehmen, um ihre Situation langfristig zu verbessern.
Damit armutsbetroffene und -gefährdete, niedrigqualifizierte Menschen unterstützt, entlastet und befähigt werden können, braucht es zum einen den Abbau von strukturell bedingten Problematiken und Ungleichheiten: existenzsichernde Löhne, weitere finanzielle Entlastungen sowie Verbesserungen in Wohn- und Familienpolitik.
Zum anderen braucht es niederschwellige Beratungsangebote, um das Wissen über und die Orientierung innerhalb der Unterstützungsangebote zu verbessern. Voraussetzung dafür ist, diese Menschen als Teil unserer Gesellschaft zu sehen und sie im (medialen) Diskurs nicht zu vergessen. Ihre Lebenswelten müssen sichtbar gemacht werden, damit hingeschaut werden kann.
Fotoprojekt «Arm in der reichen Schweiz»
Klaus Petrus war Philosophieprofessor an der Universität Bern. Heute arbeitet er als Fotojournalist, Reporter und Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Die Fotoporträts zu diesem Artikel stammen aus seinem Langzeitprojekt «Arm in der reichen Schweiz». Sie zeigen Menschen, die von der Sozialhilfe oder am Existenzminimum leben.
Klaus Petrus wurde 2022 und 2023 mit einem Swiss Press Photo Award ausgezeichnet.