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Soziale Arbeit

Babyboomer ohne Babys

Wer keine eigenen Kinder hat, weicht von der traditionellen gesellschaftlichen Norm ab. Wie prägt das diese Menschen? Und wie gehen sie im Alter damit um?

Für die empfundene Lebensqualität sind nicht eigene Kinder entscheidend, sondern biografische Erfahrungen wie eine Partnerschaft. (Bild: plainpicture / Anke Doerschlen)

von Jeannine Hess

«Seid fruchtbar und mehret euch!», befahl der jüdisch-christliche Gott in der Bibel. Was Pronatalist:innen bis heute als Gebot verstehen, haben Antinatalist:innen ins Gegenteil verkehrt: «Du sollst dich nicht fortpflanzen!», predigt etwa Chris Korda, ihr radikalster Vertreter. Seine Bewegung ist in den USA als Religionsgemeinschaft anerkannt. Angesichts der globalen Umweltprobleme, so ihr Glaubenssatz, sei Fortpflanzung unverantwortlich.  

Radikale Positionen, die belegen: Die Kinderfrage ist seit jeher moralisch aufgeladen. Zwar sorgen in jüngster Zeit das Childfree-Movement und Studien wie «Regretting Motherhood» medial für Aufsehen. Dennoch ist das Modell «Familie mit Kindern» nach wie vor die soziale Norm. Sie war es noch stärker in der Generation jener, die heute das Pensionsalter erreicht haben. Weshalb sind einige von ihnen dennoch ohne Nachwuchs geblieben? Wie hat die Kinderlosigkeit ihren Lebenslauf beeinflusst? Und wie gehen diese Menschen heute in der Lebensphase Alter damit um? Das habe ich in meiner Dissertation «Bedeutung von Kinderlosigkeit in der Biografie» untersucht.

Ein Viertel ist kinderlos

Die Generation der Kriegs- und Nachkriegs-Babyboomers ist dabei besonders interessant. Die neun zwischen 1943 und 1950 in der Deutschschweiz geborenen Frauen und Männer, die ich interviewte, wurden zwar in einer Zeit sozialisiert, als die klassische Kleinfamilie die dominante Lebensform war. Aber sie verfügten ab 1961 mit der Antibabypille als erste Generation über ein verlässliches Mittel zur Geburtenkontrolle und durchlebten den gesellschaftlichen Wandel um 1968.

Kinderlosigkeit in dieser Altersgruppe ist in der Schweiz ein verbreitetes Phänomen. Laut dem Bundesamt für Statistik hat rund ein Viertel der 50- bis 80-Jährigen keine leiblichen oder adoptierten Kinder. Das ist eine der höchsten Raten weltweit. Bemerkenswert dabei ist: Nur 19 Prozent der Frauen und 22 Prozent der Männer in dieser Altersgruppe, die einer Religionsgemeinschaft angehören, sind kinderlos; bei Frauen und Männern ohne Religionszugehörigkeit beträgt der Anteil dagegen 26 beziehungsweise 34 Prozent. Hat Fortpflanzung also mit einer religiösen oder ideologischen Haltung zu tun? Zumindest die autobiografisch-narrativen Interviews im Rahmen meiner Untersuchung zeigten keine Hinweise darauf.  

Überhaupt scheint es nicht den einen Grund zu geben für Kinderlosigkeit, sondern eine ausgewogene Vielfalt von Gründen. Bei den einen sind sie medizinischer Art, beim anderen fehlte zur richtigen Zeit die richtige Frau und wieder eine andere wollte sich explizit den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen widersetzen. Unter anderem geprägt durch frühe Sozialisationserfahrungen positionieren sich die Interviewten unterschiedlich zur traditionell familialen Lebensform mit Kindern.  

Daraus kristallisierten sich vier Idealtypen von Haltungen heraus:  

  • Kongruenz: Manche idealisieren Heirat und Elternschaft aufgrund Erfahrungen in der Kindheit und erachten sie als nachahmenswert. Sie streben die traditionelle Kleinfamilie an und orientieren sich an klassischen Geschlechterrollen. Bleibt Nachwuchs aus, fokussieren sie auf die intensive Betreuung anderer Kinder, später als soziale Grosseltern.  
  • Distanz: Bei anderen Befragten lösten Kindheitserlebnisse eine Distanz oder sogar Ablehnung der traditionellen Familie aus. Sie entschieden sich aktiv zwar nicht immer explizit gegen Kinder an sich, aber doch für eine Lebensform, bei welcher Karriere und/oder Unabhängigkeit im Fokus standen.  
  • Suche: Die dritte Gruppe steht der traditionellen Familie ambivalent gegenüber. Selbstzweifel oder Respekt vor der Aufgabe liessen sie zögern. Ihre Biografie ist geprägt durch die Suche nach sich selbst, ihren Wünschen, Bedürfnissen, Vorhaben, mit denen sie sich identifizieren können.  
  • Pragmatismus: Und schliesslich gibt es Frauen und Männer, die sich sachbezogen, realistisch und pragmatisch an der normativen familiären Lebensform orientieren und sich anpassungsfähig zeigen. Eigene Kinder zu haben, empfanden diese Menschen zwar als Option; keine zu haben, eröffnete ihnen neue Möglichkeiten.

So vielfältig die Gründe für Kinderlosigkeit sind, so breit ist das Spektrum, wie die kinderlosen Kriegs- und Nachkriegs-Babyboomer ihr Leben heute beurteilen. Für die empfundene Lebensqualität entscheidend sind im Alter in der Regel nicht eigene Kinder. Es sind vielmehr individuell-biografische Erfahrungen und der bisherige Umgang mit gesellschaftlichen Erwartungen, die den Handlungsspielraum beeinflussen. Ein Teil der befragten Frauen und Männer weiss diesen bewusst und kreativ zu nutzen – sei es für berufliche Projekte über das Pensionierungsalter hinaus, für Freiwilligenarbeit, eine soziale Grosselternschaft oder eine spontane und befriedigende Alltagsgestaltung.

Aufgabe für die Soziale Arbeit

Ein kleinerer Teil dagegen fühlt sich von gerade dieser Freiheit überfordert und vermisst die Struktur und soziale Einbettung, die das Erwerbsleben bietet. Das kann zu einem Gefühl der Wehmut führen: Habe ich im Leben etwas verpasst, mein Potenzial doch nicht ausgeschöpft, wäre Elternschaft nicht doch das Richtige gewesen? Fehlen ein unterstützendes Umfeld und die Integration in ein soziales Netz, kann Altern unter diesen Prämissen zu Resignation, Passivität und Einsamkeit führen.

Menschen ohne Kinder im Lebensabschnitt Alter waren bisher nicht grundsätzlich Adressat:innen der Sozialen Arbeit. Wegen der demografischen Entwicklung wird ihre Zahl indes zunehmen. Es ist deshalb wichtig, sich mit ihren Lebensläufen auseinanderzusetzen, um sie gezielt begleiten zu können und ihnen Gestaltungsspielräume und soziale Teilhabe zu eröffnen. Für die empfundene Lebensqualität sind nicht eigene Kinder entscheidend, sondern biografische Erfahrungen wie eine Partnerschaft.