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Soziale Arbeit

Care Leaverin erinnert sich: «Bilder sind wichtig für die Perspektive auf die eigene Zukunft»

Wie ist es, sich die eigene Zukunft nicht vorstellen zu können? Ein ehemaliges Pflegekind erzählt von Vorurteilen, Wut und davon, was ein partizipatives Forschungsprojekt alles auslösen kann.

Von Rose Burri, Präsidentin Careleaver Schweiz

Es gab diesen Moment, als ich mir sagte: Wenn so vieles schiefläuft, hast du zwei Möglichkeiten – entweder du heulst im Stillen, oder du stehst auf und redest darüber, was anders sein muss. Ich entschied mich für Letzteres.

Darum bin ich heute Präsidentin von Careleaver Schweiz, einer nationalen Dachorganisation für regionale Netzwerke, die als Lobby-Organisation und politische Interessenvertretung aktiv ist. Mit Workshops, Inputs und Medienarbeit sensibilisieren wir Fachpersonen im Kindesschutz und die Öffentlichkeit für die Perspektive von Heim- und Pflegekindern und Care Leavern.

«Dass ehemalige Pflegekinder grundsätzlich ein Abgrenzungsproblem haben und darum nicht im Sozialbereich arbeiten sollten, ist eines dieser Vorurteile, die hinterfragt werden müssen.»

Rose Burri, Präsidentin Careleaver Schweiz und ZHAW-Weiterbildungsabsolventin

Es kursieren leider viele Vorurteile über uns und unsere Leben. Ein Beispiel: Heime seien schreckliche Orte. Ein grosser Irrtum. Sie können eine Erholungszone sein im Gegensatz zur Herkunftsfamilie. Solche falschen Bilder wollen wir von Careleaver Schweiz revidieren. Denn Bilder sind wichtig für die Perspektive auf die eigene Zukunft. Ich konnte mir früher nie vorstellen, wie ich als Erwachsene sein könnte oder dass ich einen höheren Bildungsweg einschlagen würde.

Stempel auf der Stirn

Manchmal kann ich kaum glauben, wo ich heute, mit 33 Jahren, persönlich und beruflich stehe. Angefangen hat es mit einem Flyer. Das war 2017. Er warb für eine Veranstaltung an der ZHAW zu Heimplatzierungen. «Wie en Stämpfel uf d Stirn», stand auf dem Flyer. Das machte mich nachdenklich. Erwartete man von mir etwas anderes als von anderen Menschen, weil ich ein Heimkind war? Weniger Professionalität etwa, oder dass ich sowieso versagen würde? Und vor allem: Waren diese Gedanken eine Folge von Stigmatisierung, oder setzte ich mir selbst solche Grenzen? Das wollte ich herausfinden.

Ich erlebte schon früh in meinem Leben viel Ablehnung. Im Alter von acht Monaten wurde ich bei der Gemeinde abgegeben. Die nächsten Jahre ging es hin und her: inoffizielle Pflegefamilie, bei den Eltern, Heim, wieder bei den Eltern, mit 15 in eine SOS-Pflegefamilie, später wieder in ein Heim.

Ohnmächtig und stumm

Meine Erfahrungen machten mich ohnmächtig und stumm. Ich besuchte also 2017 den Vortrag an der ZHAW – und verstand die Welt nicht mehr. Das alles hatte nichts mit meiner Realität zu tun. Als mich nachts die Wut darüber nicht losliess, surfte ich auf der Website der ZHAW und entdeckte den CAS Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. Den wollte ich besuchen! Ich wollte herausfinden, wie es zu all den Kindesschutzmassnahmen kam bei mir, hinter denen ich oft keinen konkreten Kindesschutz sah. Da ich die Schule für Sozialbegleitung absolvierte, wurde ich 2018 für den Kurs zugelassen. Ich war die einzige Care Leaverin. Gehörten meine Erfahrungen und meine Betroffenheit überhaupt hierher? Laut Dozentin: ja. Ich fand: unbedingt. Doch nicht alle Teilnehmenden sahen das so.

Dass ehemalige Pflegekinder grundsätzlich ein Abgrenzungsproblem haben und darum nicht im Sozialbereich arbeiten sollten, ist eines dieser Vorurteile, die hinterfragt werden müssen. Wir sind sehr wohl fähig, professionell zu arbeiten, gerade wegen unserer Erfahrungen. Wir können glaubwürdig die Hoffnung vermitteln, dass man das Leben trotz aller Widrigkeiten meistern kann.

Ein Platz am Tisch

Am ersten Tag im Toni-Areal entdeckte ich das Forschungsprojekt «Übergang in die Selbständigkeit: Pflegekinder wirken mit» von Renate Stohler und Karin Werner. Es war partizipativ angelegt. Ich wurde Teil der Begleitgruppe. Zusammen mit anderen Care Leavern arbeiteten wir heraus, welche Bedürfnisse zu wenig wahrgenommen werden und was wir tun könnten, um etwas zu verändern. So begann unser Weg, der letztlich zum Verein Careleaver Schweiz führte.

Ich habe viel gelernt im ZHAW-Projekt und bin den Forschenden sehr dankbar. Ich erkannte, wozu ich fähig war. Und so arbeite ich weiter an meinem Ziel: Care Leaver sollen sichtbar werden und einen Platz am Tisch bekommen, wenn Gesetze erlassen werden, die sie betreffen. Sowohl für Forschung wie für Politik sollte gelten: «Nothing about us without us.»