Der Fachkräftemangel erfordert kreative Lösungen
Im Sozialbereich verschärft sich die Fachkräftesituation seit Jahren. Gemeinsam mit Praxisorganisationen entwickelt die ZHAW nun neue Strategien.

Von Peter Streckeisen, Daniela Wirz und Martial Jossi
Überlastung des Personals und höhere Fluktuation, längere Wartezeiten bei der Leistungserbringung, Engpässe bei der Rekrutierung neuer Mitarbeitender: Was soziale Organisationen seit einigen Jahren immer öfters bekunden, belegt nun die kürzlich veröffentlichte nationale Studie zur «Fachkräftesituation im Sozialbereich 2024» des Dachverbands SavoirSocial und der Fachkonferenz SASSA mit harten Zahlen.
Zum Beispiel: Nur noch 60 Prozent der ausgeschriebenen Stellen können fristgerecht und mit der gewünschten Qualifikation besetzt werden. Und: Die Fluktuationsrate in den befragten Organisationen liegt bei 22 Prozent – das ist deutlich höher als der allgemeine Schweizer Durchschnitt von 16 Prozent. Ausserdem: Nur 38 Prozent der Fachpersonen bleiben länger als fünf Jahre im selben Betrieb, was deutlich unter dem branchenübergreifenden Durchschnitt von 50 Prozent liegt.
Häufigster Kündigungsgrund: Arbeitsbelastung
Als häufigster Kündigungsgrund wird die Arbeitsbelastung genannt. Diese Zahlen sind vor dem Hintergrund branchenspezifischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zu sehen. Sowohl die Zahl der Beschäftigten im Sozialbereich wie auch der Anteil des Personals mit branchenspezifischen Ausbildungen haben zugenommen. Die Mehrheit der befragten Organisationen erwartet in den kommenden fünf Jahren eine weitere Zunahme des Fachkräftebedarfs. Die Gründe sind vielfältig: Komplexität der Aufgaben, Nachfrage nach Angeboten, Professionalisierung, Bevölkerungswachstum und demografischer Wandel.
Im Sozialbereich ist das Fachpersonal zudem durchschnittlich jünger als in anderen Branchen. Erwartungen an berufliche Laufbahnen und an eine Work-Life-Balance der jüngeren Generationen betreffen soziale Organisationen also besonders stark. Es stellt sich die Frage, welche Strategien sie entwickeln, um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten.
Perspektiven verknüpfen
Die ZHAW Soziale Arbeit lancierte Anfang 2023 einen Runden Tisch mit Vertreter:innen von Zürcher Organisationen. Ein Team des Instituts für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe griff die bei drei Durchführungen gesammelten Anliegen auf und führte 2024 das Projekt «Lösungsansätze zum Fachkräftemangel im Sozialbereich» durch.
Dabei wurden mehrere Perspektiven verknüpft: jene der sozialen Organisationen, der Fachpersonen, der Ausbildungseinrichtungen sowie aller Akteur:innen. Am Projekt teilgenommen haben die AOZ, das HEKS, das Mandatszentrum Dietikon, die OJA Zürich, die Sozialen Dienste der Stadt Zürich, die Stiftung Altried, die Stiftung Zürcher Gemeinschaftszentren sowie die Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime.
Zuerst festhalten, dann Kompromisse eingehen
Nach insgesamt 32 Gruppen- und Einzelinterviews entwickelte man in fünf themenspezifischen Workshops Ideen und Lösungsansätze. Dabei wurde festgestellt: Gängige Routinen zur Rekrutierung von Fachkräften zeigen immer seltener den gewünschten Erfolg. Zunächst wird versucht, am bisherigen Ansatz festzuhalten, geht man aber situativ Kompromisse ein. Mit der Zeit beginnen die Organisationen, neue Strategien zu entwickeln, etwa, indem sie gezielt Personen mit Profilen und Qualifikationen ansprechen, die bisher nicht im Fokus standen.
Andere wiederum führen Neuerungen bei der internen Organisation und Aufgabenverteilung ein, welche die Qualifikationsstruktur des Fachpersonals verändern oder eine flexiblere Gestaltung zulassen. Im besten Fall nutzen die Organisationen die Werthaltungen und Lebensentwürfe jüngerer Generationen als Chance für eine nachhaltige Entwicklung.
Motto: «Alle machen alles»
Die Entwicklung einer bewussten Personalstrategie ist in sozialen Organisationen aber keine Selbstverständlichkeit. HR-Aufgaben werden oftmals durch Fachverantwortliche nebenher erledigt.Personaldaten werden kaum aufbereitet und analysiert, um sie als Ressource für eine zukunftsgerichtete Personalstrategie zu nutzen. Die Versuchung ist daher gross, trendige, aber nicht auf den Sozialbereich abgestimmte HR-Konzepte zu importieren.
Viele Organisationen rekrutieren mehrheitlich oder ausschliesslich Fachpersonal mit derselben Ausbildung. So werden in der Betreuung von Kindern oder Menschen mit Behinderungen Fachpersonen Betreuung (FaBe) gesucht, in Gemeinschaftszentren oder Sozialdiensten wiederum Absolvent:innen von Fachhochschulen. Dies führt zu einer betrieblichen Praxis nach dem Motto «Alle machen alles» (oder «Alle machen das Gleiche»). Aufgabenverteilung und Qualifikationsstruktur sind kaum ausdifferenziert.
Neue Zugänge öffnen
Das kann für Mitarbeitende frustrierend sein und zu Unter- oder Überforderung führen. Ebenso orientieren sich Organisationen noch oft an traditionellen Modellen linearer Karrieren und hoffen, dass Fachpersonen für viele Jahre im angestammten Berufsfeld oder Betrieb verbleiben.
Um Zugänge zu bisher nicht erreichten potenziellen Fachkräften zu öffnen, könnten Organisationen Vielfalt neu denken. Diese kann sich sowohl auf Qualifikationen («grades») wie auch auf persönliche Erfahrungen und Fähigkeiten («skills») beziehen.
Was bedeutet das? Zum einen können Fachpersonen mit anderen Berufsqualifikationen aus dem Sozialbereich rekrutiert werden, die sich dann spezialisieren oder weiter ausbilden. Zwei Beispiele: Jemand wechselt von der Sozialpädagogik zur Sozialberatung oder jemand besucht nach einer Lehre als Fachkraft Betreuung noch eine Fachhochschule.
Zum anderen können Personen angesprochen werden, die keine Berufsqualifikation im Sozialbereich haben, aber über wertvolle Erfahrungen und Fähigkeiten aus einem anderen Berufsfeld verfügen. Eine weitere Dimension der Vielfalt bezieht sich auf die Generationen: Anstatt fast ausschliesslich junge Berufseinsteigende zu rekrutieren, könnten gezielt unterschiedliche Generationen angesprochen werden.
Quereinstiege fördern
Es gibt trotz allem auch eine gute Nachricht: Der Anteil des qualifizierten Personals hat weiter zugenommen. Nun stellt sich die Frage: Wie lässt sich diese Entwicklung nachhaltig sichern? Die Erkenntnisse aus dem ZHAW-Projekt sprechen dafür, Professionalisierung in Zukunft weniger als das Monopol einer einzelnen Berufsgruppe in ihrem angestammten Bereich zu denken, sondern vielmehr als eine Zusammenarbeit von Fachpersonen mit unterschiedlichen «grades» und «skills». Ein Lösungsansatz: die Förderung von Quereinstiegen.
Was darunter verstanden wird, reicht vom Wechsel zwischen verschiedenen Feldern des Sozialbereichs bis hin zur Einstellung von Fachpersonen aus dem Ausland oder Personen ohne Qualifikation im Sozialbereich. Soziale Organisationen stossen dabei aber auf Hürden wie die Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder die Finanzierung von Aus- und Weiterbildungen.
Austausch und Zusammenarbeit
Im ZHAW-Projekt zum Fachkräftemangel zeigte sich klar: Soziale Organisationen stehen den Herausforderungen «gefühlt» oft allein gegenüber. Umso wertvoller sind der Austausch, das gegenseitige Lernen oder gar die Zusammenarbeit. Denn gerade kleine und mittlere Organisationen verfügen kaum über die Ressourcen, um Mentoratsprogramme oder Fachbegleitungen für Berufseinsteigende im Alleingang anzubieten.
Geht es um die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse oder die Finanzierung von Nachqualifizierungen von Quereinsteiger:innen, sind politische Lösungen oder branchenweite Kooperationen gefragt.
Über den Tellerrand hinausschauen
Das Projekt dient auch dazu, die Rolle der ZHAW Soziale Arbeit bei der Suche nach Lösungen für die angespannte Fachkräftesituation zu schärfen. Mit dem «Runden Tisch: Fachkräftemangel im Sozialbereich» und dem Kooperationsprojekt «Zürich Sozial» fördert sie bereits die Vernetzung der Stakeholder:innen und bietet einen Rahmen, um über Lösungsansätze zu diskutieren. Darüber hinaus eröffnet das Projekt Grundlagen, um Vorschläge aus der Praxis betreffend die Weiterentwicklung des Aus- und Weiterbildungsangebots aufzugreifen.
Auch das aktive Vorgehen anderer Fachhochschulen kann als Inspirationsquelle genutzt werden: So hat an der Fachhochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne (HETSL) Ende 2023 eine breit abgestützte Branchenkonferenz zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Sozialbereich stattgefunden.
Lösungsansätze lassen sich nie 1:1 von einem Ort auf einen anderen übertragen. Aber der Blick über den Tellerrand ist manchmal erforderlich, um neue Wege zu denken und zu gehen.