«Der Strafvollzug ist immer ein Spiegel der Gesellschaft»
Das Rechtssystem steht unter dem Null-Risiko-Druck. Doch um die Rückfallquote von Straftäter:innen zu senken, braucht es nicht härtere Gefängnisstrafen, sondern wirksame Rückfallprävention.
Interview: Regula Freuler
Illustrationen: Elisabeth Moch
Mirjam Schlup, Sie leiten mit Justizvollzug und Wiedereingliederung Zürich eine Behörde, die öfters in der Kritik steht, etwa wegen der starken Zunahme stationärer therapeutischer Massnahmen, bekannter als «kleine Verwahrung». Wie gehen Sie damit um?
Mirjam Schlup: Mit fachlichen Argumenten und Erläuterungen. Zum Beispiel mit dieser: Eine Massnahme nach Artikel 59 ist eben keine Verwahrung, sondern eine stationäre therapeutische Massnahme. Sie ist auf maximal fünf Jahre befristet und kann – wenn indiziert – verlängert werden. Bei der Verwahrung nach Artikel 64 hingegen kommt das Gericht zum Schluss, dass die Tatperson ein hohes Rückfallrisiko aufweist und nicht therapierbar ist. Es handelt sich um eine sichernde Massnahme ohne zeitliche Befristung.
Dirk Baier: Richtig ist allerdings, dass sich die Verweildauern im Massnahmenvollzug in den letzten Jahren verdoppelt haben.
«Öffnungen ab einem bestimmten Zeitpunkt sind wichtig, um die Wiedereingliederung anzugehen.»
Mirjam Schlup, Leiterin Justizvollzug und Wiedereingliederung (JUWe) Kanton Zürich
Eine Verdoppelung der Verweildauer ist markant. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Dirk Baier: Erstens ist es in den letzten Jahren gelungen, hinter Straftaten liegende Probleme genauer zu identifizieren, also psychische Probleme und Störungen zu diagnostizieren. Zweitens gibt es einen gesellschaftlichen Trend zur Null-Risiko-Gesellschaft. Das ist eine Utopie. Aber man hat Angst, diese Tatsache auszusprechen, und ist stattdessen weniger tolerant bei Entlassungen auf Bewährung.
Mirjam Schlup: Therapien sind bei den meisten Straftäter:innen wirksam. Bei manchen reichen fünf Jahre zwar nicht, aber man könnte kürzere Verlängerungen in Betracht ziehen. Gerade bei nach Artikel 59 Verurteilten sind wir nach wie vor sehr, vielleicht allzu vorsichtig mit Öffnungsschritten. Öffnungen sind ab einem bestimmten Zeitpunkt wichtig, um die Wiedereingliederung Schritt für Schritt anzugehen. Die Verantwortung, die dabei auf den Schultern der Entscheidungsträger:innen ruht, ist gross. Und wehe, es passiert etwas – dann kann das ganze System kippen.
Dirk Baier: Das zunehmende Sicherheitsdenken hat zur Folge, dass man jetzt über Verwahrung für Jugendliche nachdenkt. Da bin ich dagegen.
«Sozialarbeitende im Justizvollzug sind das Scharnier zwischen Drinnen und Draussen.»
Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention am ZHAW-Departement Soziale Arbeit und Professor ad personam für Kriminologie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.
Kann man diesem Trend entgegenwirken?
Dirk Baier: Wir müssen klarmachen, was wir Schlechtes anrichten, wenn wir Menschen zu lange in Haft halten. Zum einen ihnen gegenüber, zum anderen gegenüber der Gesellschaft.
Inwiefern?
Dirk Baier: Allein schon deshalb, weil übermässig lange Vollzugsdauern übermässig hohe Kosten verursachen. Die Gelder liessen sich anderweitig besser investieren, etwa in die Prävention.
Mirjam Schlup: Fast alle Straftäter:innen kommen irgendwann wieder frei. Je länger sie weggesperrt waren, umso schwieriger gestaltet sich die Wiedereingliederung. Der Justizvollzug hat in den letzten 30 Jahren grosse Entwicklungen durchgemacht. Nach einigen tragischen Fällen rückten die Risiken ins Zentrum. Seit einigen Jahren jedoch fokussiert man vermehrt auf die Ressourcen.
Sie sprechen damit ein anderes Thema des Justizvollzugs an, für das Zürich bis vor einigen Jahren kritisiert wurde: das Regime der Untersuchungshaft.
Mirjam Schlup: Jacqueline Fehr, die Zürcher Direktorin der Justiz und des Innern, hat 2017 mit dem Reformauftrag an die Untersuchungsgefängnisse einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Das Ziel ist, Ressourcen zu erhalten und Haftschäden zu minimieren – ab Tag eins. Statt 23 Stunden in der Zelle zu sitzen, können sich Inhaftierte heute bis zu acht Stunden am Tag ausserhalb ihrer Zelle aufhalten. Wir richteten einen Gruppenvollzug ein und intensivierten die Angehörigenarbeit. Es gibt Spezialabteilungen wie die Kriseninterventionsabteilung, Arbeits- und Bildungsangebote. Neu sind Besuche mittwoch-
nachmittags möglich, damit Kinder einfacher ihren Elternteil besuchen können. Und wir richteten kindgerechte Besuchszimmer ein.
Dirk Baier: Die Untersuchungshaft ist die schwierigste Haftform für Angehörige. In einer Untersuchung der Situation von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil, die wir letztes Jahr im Auftrag des Bundesamts für Justiz durchführten, stellten wir fest: Vielerorts dürfen Kinder nur mit grosser Distanz Gespräche mit ihren Vätern führen, kindesgerechte Räume sind die Ausnahme.
Mirjam Schlup: Mit unseren Reformmassnahmen sollen die Inhaftierten ihre Selbstwirksamkeit erhalten und aufbauen können. Dies dient der besseren Wiedereingliederung in die Gesellschaft – und vor allem auch ihren Familien.
Was sie aufzählen, klingt wie der normale Vollzug.
Mirjam Schlup: Die Reform der U-Haft bedeutet nicht «anything goes». Sehr viele Schritte werden mit der Staatsanwaltschaft abgesprochen und benötigen ihre Bewilligung. So können die Inhaftierten nicht von Anfang an in den Gruppenvollzug oder Besuch empfangen. Der Tagesablauf ist klar strukturiert, alle müssen sich daran halten.
Was bedeutet der Paradigmenwechsel für die Fachpersonen Justizvollzug?
Mirjam Schlup: Wir orientieren uns am Konzept der dynamischen Sicherheit des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Justizvollzug. Der Grundgedanke ist, dass die Sicherheit höher wird, wenn Aufseher:innen und Betreuer:innen mit den Inhaftierten stärker in Beziehung treten und ein respektvolles Gefängnisklima gestalten. Der Unterschied ist beeindruckend. Im Untersuchungsgefängnis Zürich haben wir bis zu 130 Inhaftierte gleichzeitig im Gruppenvollzug. Sie können sich frei im Hof und im Haus bewegen. Dabei kommt es nicht zu mehr Vorfällen, als wenn jeder für sich eingeschlossen ist.
Werden diese Reformen wissenschaftlich begleitet?
Mirjam Schlup: Nein, aber es gibt ausreichend Nachweise in der Forschung, dass besonders restriktive Haftbedingungen schädlich sind und dass die Beziehungsgestaltung und ein wohlwollendes Gefängnisklima zu einer besseren Resozialisierung führen.
Dirk Baier: Man sollte nicht immer nur auf die Wirksamkeit einzelner Veränderungen fokussieren, also ob die Rückfallquote um 3 Prozent fällt oder steigt. Viel sinnvoller ist ein breites Evaluationsverständnis.
Was muss man darunter verstehen?
Dirk Baier: Man muss schauen, was eine Reform mit der ganzen Organisation und mit dem Strafvollzug an sich macht. Eine breite Evaluation bedeutet, aus den Prozessen zu lernen, bei denen alle Beteiligten zusammengebracht werden. Auf dieser Basis kann man dann einzelne Reformprojekte skalieren, das heisst, bestenfalls im gesamten Schweizer Strafvollzug zur Abwendung bringen.
Seit Oktober 2023 führen die Kantone Zürich und Bern den auf fünf Jahre angelegten Modellversuch Untersuchungshaft durch. Worum geht es dabei?
Mirjam Schlup: Es wurden sechs Interventionen definiert. Neu gibt es zu Beginn der Haft ein Lebensbereichsgespräch, um vorhandene Ressourcen zu erkennen und diese mit Sofortmassnahmen zu erhalten. Anschliessend begleitet ein interdisziplinäres Case Management aus Sozialdienst, Fachpersonen Justizvollzug und Fachpersonen Gesundheit die inhaftierten Personen durch die Untersuchungshaft. Um die sozialen Ressourcen möglichst zu erhalten, werden Kontakte zu Angehörigen gefördert. Ausserdem testen wir ein neues Tool namens PRISMA, ein Anagramm für «Prison Stress Management». Es wurde von der WHO für Menschen auf der Flucht und im Asylbereich entwickelt. Wir haben es auf die Untersuchungshaft adaptiert. Es ist ein Stressbewältigungsprogramm, mit dem die Inhaftierten sich besser steuern lernen, um in Haft weniger psychische Erkrankungen zu entwickeln. Eine weitere Intervention ist das Übergangsmanagement, wenn jemand vor der Entlassung steht.
Und für die Fachpersonen Justizvollzug selbst?
Mirjam Schlup: Das ist Intervention Nummer sechs: Es gibt ein praxisorientiertes Ausbildungsprogramm, bei dem sie die Interventionen kennenlernen und in dynamischer Sicherheit nochmals geschult werden, unter anderem mit Rollenspielen.
Dirk Baier: Sozialarbeitende nehmen einen enorm wichtigen Part ein und setzen viele dieser Interventionen um. Sie sind das Scharnier zwischen Drinnen und Draussen.
Was bedeutet das für die Profession?
Dirk Baier: Ihre Tätigkeiten werden ein Stück weit standardisiert. Daran müssen sich manche Sozialarbeitende erst gewöhnen. Ich begrüsse diese Entwicklung. Man muss aber bedenken, dass es hierfür gut qualifizierte Personen braucht. Ein Bachelorstudium reicht vermutlich nicht unbedingt aus.
Was braucht es?
Dirk Baier: Eine gute Weiterbildung. In unserem CAS Case Management erwerben die Sozialarbeitenden spezifische Kompetenzen, wie es sie in Untersuchungsgefängnissen oder im Vollzug braucht.
Mirjam Schlup: Mit der JuWe-Akademie gibt es bei uns ein internes Weiterbildungsangebot. Ausserdem bietet das Schweizerische Kompetenzzentrum für den Justizvollzug SKJV ein breites und massgeschneidertes Weiterbildungsprogramm. Und dann gibt es eine Reihe von postgradualen akademischen Studiengängen, in denen JuWe-
Mitarbeitende unterrichten.
Dirk Baier: Unsere CAS-Angebote waren bisher für Nicht-Fachpersonen ohne Bachelor oder Master wenig offen. Aber das wird sich ändern, weil wir als Fachhochschule versuchen, verstärkt kompetenzbasiert Eingangsprüfungen zu machen.
Mirjam Schlup: Durch das Konzept der dynamischen Sicherheit rückt der Justizvollzug immer näher an die Soziale Arbeit heran. Was wir ebenfalls feststellen: Durch das neue Berufsbild ziehen wir vermehrt Stellensuchende an, die gerne mit Menschen arbeiten und sich beruflich weiterentwickeln wollen.
All diese Veränderungen setzen den Kooperationswillen von Inhaftierten wie auch flexible Angestellte voraus. Wo stösst man an Grenzen?
Mirjam Schlup: Es ist anspruchsvoll für Fachpersonen Justizvollzug, den ganzen Tag über Beziehungsarbeit zu leisten.
Dirk Baier: Grenzen solcher Bemühungen sind in der Regel die Ressourcen. Wenn ein Sozialarbeiter mit 30 Inhaftierten Beziehungsaufbau machen muss, kommt er schon arg an seine Grenzen.
Mirjam Schlup: Natürlich braucht es bei einer solchen Art von Vollzug mehr Ressourcen als früher. Das wird die Herausforderung sein, wenn es darum geht, solche Modelle breit zu etablieren.
Zählt restaurative Justiz auch zu den Reformmassnahmen?
Mirjam Schlup: Unter dem Begriff lassen sich verschiedene Interventionen entlang der Justizkette subsummieren. Einzelne, etwa Community-basierte Ansätze, erachte ich im Hinblick auf Wiedereingliederung als vielversprechend. Andere hingegen gar nicht. Werden Jugendliche mit Straftäter:innen in Kontakt gebracht, um abzuschrecken, hat das die gegenteilige Wirkung. Das machen wir sicher nicht. Zum Zusammenbringen von Opfern und Tätern, worüber gehäuft in den Medien zu lesen war, liegt wenig Evidenz vor bezüglich Senkung der Rückfallquote.
Woran liegt das?
Dirk Baier: Um Menschen und ihre Lebensstile oder psychischen Akzentuierungen zu verändern, braucht es mehr als Gespräche zwischen Tatpersonen und Opfern, wie das bei sogenannten restaurativen Zirkeln der Fall ist. Es braucht Training und therapeutische Massnahmen. Da könnte man sich fragen, ob ein Austausch mit Opfern Teil einer solchen Therapie sein könnte und für welche Gruppen von Straftäter:innen. So detailliert ist die Forschung noch nicht. Aber da könnte zukünftig Potenzial liegen.
Mirjam Schlup: Wenn, dann müsste man diese Fälle sehr sorgfältig auswählen und das Risiko der Retraumatisierung der Opfer mitberücksichtigen. Es ist auf jeden Fall kein einfaches Forschungsfeld.
Und es ist auch politisch riskant, weil es um die Sicherheit der Opfer geht.
Mirjam Schlup: Der Schutz von Opfern hat bei allen Interventionen oberste Priorität. Als Justizvollzugsbehörde ist es unsere Aufgabe, dass wir uns politischen Diskursen stellen. Der Strafvollzug ist immer ein Spiegel der Gesellschaft und des Zeitgeists. Doch je evidenzbasierter wir arbeiten, desto besser können wir argumentieren, warum wir etwas tun.
Dirk Baier: Nur bekommt man den Eindruck, dass wissenschaftliche Evidenz immer häufiger weggewischt wird, vielleicht nicht in der Schweiz, aber international. Ich denke da an deutsche Fernsehsendungen, bei denen ein AfD-Politiker und ein hochdekorierter Wissenschaftler sitzen, und beides wird als gleichwertig verkauft, das Bauchgefühl und evidenzbasiertes Wissen. Das Schlachtfeld da draussen wird gerade wieder geöffnet für alternative Formen von Legitimationen. Ich beobachte diese Entwicklung nicht ohne Sorge.
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