Dialog statt Konfrontation: die Zürcher Sozialreformerin Emmi Bloch
Mit bürgerlicher Gesinnung und unerschütterlichem Optimismus kämpfte Emmi Bloch (1887–1978) für die Berufsbildung der Sozialarbeitenden und das Frauenstimmrecht
Das Volk hat Hunger. Im Juni 1918 – an den Fronten laufen die letzten Schlachten, die Spanische Grippe hat Europa erreicht – sind in der Schweiz fast 700'000 Menschen auf Notstandsunterstützung angewiesen. Das ist ein Sechstel der Bevölkerung. In der Stadt Zürich beziehen täglich 4000 Kinder ein kostenloses Frühstück. Derweil fahren die Export- und Nahrungsmittelindustriellen Gewinne ein.
Nun gehen die Sozialdemokratinnen auf die Barrikaden. Mehr als 1000 Frauen ziehen am 10. Juni bis vor das Rathaus, wo der Zürcher Kantonsrat tagt. «Wir hungern», steht auf ihren Schildern. Hereingelassen werden sie nicht, aber sie haben Forderungen mitgebracht: Sofortige Beschlagnahmung und gerechte Verteilung aller Lebens- und Bedarfsartikel, lautet eine, Festsetzung des Existenzminimums eine andere.
Tags zuvor schreibt Emmi Bloch in einem NZZ-Artikel den bürgerlichen Ehegattinnen und Müttern ins Gewissen: Auf «kostspielige Eleganz» sollen sie verzichten und ihren Kindern die «einfache Lebensführung» vermitteln. Während die Demonstrantinnen nach Brot und Lohn rufen, appelliert die Mitbegründerin und erste Sekretärin der Zürcher Frauenzentrale an die Verantwortungsethik der reichen Bürgerinnen?
Erbitterte Frauen, gleichgültige Ratsherren
Das reicht nicht aus. Im Namen des Vorstands der Frauenzentrale fordert Emmi Bloch schliesslich die Regierung auf, die Forderungen der Demonstrantinnen zu überprüfen und diese anzuhören. Ausserdem soll der Kantonsrat das Ausmass der Unterernährung erheben und das Rationierungssystem ausbauen.
Nachdem es wenige Tage später erneut zu einer Solidaritätskundgebung kommt, diesmal mit 15'000 Menschen, reichen am 17. Juni zum ersten Mal Frauen in Zürich eine Volkspetition ein. Bloch, selbst keine der Demonstrantinnen, ist an der Sitzung dabei und schreibt an jenem Abend in ihr Tagebuch: «Wahnsinnig gesteigerte Erbitterung einerseits, sträfliche Gleichgültigkeit andrerseits. Sie [die Bürgerlichen] sind ja, wie unsere vielen Frauen, eng befangen im eigenen Wesen und finden nicht den Weg, der sie an die Not der andern glauben lässt.»
Gründung eines Berufsvereins für Sozialarbeitende
Emmi Bloch ist keine Strassenkämpferin, aber als ausgebildete Sozialarbeiterin kennt sie das Leben in den Strassen und Arbeiterwohnungen. Sie ist keine Sozialistin, aber sie liest sozialistische Schriften und beruft sich in der Frauenfrage auf August Bebel und Lily Braun. Sie ist keine Suffragette, aber sie kämpft als Publizistin, Funktionärin, Referentin und Dozentin ihr Leben lang für das Frauenstimmrecht und für die Berufsbildung von Frauen.
Sie tritt nie einer Partei bei, aber sie weiss um die politische Kraft von Organisationen und gründet zahlreiche: 1921 den Berufsverein für Sozialarbeitende Zürich – in der Schweiz der erste seiner Art – sowie 1923 die Schweizerische Zentralstelle für Frauenberufe, womit sie Zürichs erste Berufsberaterin für Mädchen und Frauen wird. Dazu kommt 1933 die Arbeitsgemeinschaft Frau und Demokratie als Reaktion auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland.
Fort mit dem Korsett
Als mittlere von drei Töchtern wird sie 1887 in Zürich geboren. Die Familie hat eine Wäschefabrik im Industriequartier und führt einen bürgerlichen Haushalt mit Köchin und Dienstmädchen: Biedermeiermöbel, ein grosser alter Flügel, man musiziert und singt zusammen. Die Blochs pflegen zwar vorwiegend gesellschaftliche Beziehungen zur jüdischen Gemeinde, und die Mutter präsidiert den jüdischen Frauenverein, doch sie sind progressiv-liberal eingestellt. Emmi Bloch, die zeitlebens sehr gläubig ist, lehnt jede dogmatische konfessionelle Bindung ab und stellt sich zu einer reinen Gottesnähe, wie sie sie etwa bei Rilke fand.
In der Familie trägt sie den Spitznamen Eulenschwester, weil sie so belesen ist. Bei ihrem Tod im Jahr 1978 hinterlässt sie über 2000 Bücher. Als Kind schliesst sie sich manchmal zum Lesen in der Toilette ein. Eine scheue, aber wichtige Flucht aus dem «überflüssigen Conventionellen – in Mode und Wichtigerem» ist für sie die Jugendbewegung Wandervogel, damals in bürgerlichen Kreisen sehr populär. Man macht Ausflüge, kocht selbst, schreibt Gedichte. Nach der ersten Wandervogeltour legt Emmi Bloch das Korsett ab, für immer.
Kurs zur Einführung in weibliche Hilfstätigkeit
Alle drei Schwestern müssen für eine gewisse Zeit in der väterlichen Wäscherei arbeiten. Nach dem Besuch der Handelsabteilung an der Töchterschule und einer Ausbildung zur Weissnäherin ist Emmi Bloch drei Jahre lang in der Ferggerei tätig. Dort gibt sie Wäsche zur Heimarbeit aus und nimmt das Genähte wieder in Empfang. So kommt sie täglich in Kontakt mit Arbeiterinnen und sucht sie auch zu Hause auf, wenn diese krank sind.
Sie sieht die ökonomische Not der Familien. Der Wunsch nach einer sinnstiftenden sozialen Tätigkeit bewegt sie dazu, sich 1910 für den «Kurs zur Einführung in weibliche Hilfstätigkeit» anzumelden. Mentona Moser und Maria Fierz lancieren ihn 1908. Aus dem Kurs geht 1920 die Soziale Frauenschule hervor, heute das Departement Soziale Arbeit der ZHAW.
«Rationelle Betätigung» für Frauen
Die Fürsorgekurse sind die erste Ausbildungsgelegenheit in Sozialer Arbeit für Frauen in der Schweiz. Vorwiegend Töchtern aus begüterten Kreisen kommt hier eine frauenspezifische «soziale Erziehung» zuteil mit dem Ziel, soziale Ungerechtigkeit zu beheben – allerdings unentgeltlich. Zunächst geht es nicht um einen Beruf, sondern um das «Konzept gesellschaftlichen Handelns» und zu einer «rationellen Betätigung» der Frauen, wie Fierz 1912 im «Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege» schreibt.
Mit der Einführung des Zivilgesetzbuchs im selben Jahr werden dem Staat mehr Verpflichtungen in der Kinder- und Jugendfürsorge übertragen, als es in den kantonalen Gesetzen der Fall war. Relativ jung sind in Zürich auch die Amtsvormundschaft und das städtische Kinderfürsorgeamt. Ausgebildetes Personal ist immer gefragter, vor allem in stationären Einrichtungen.
Befreiung vom ehelichen «Parasitenleben»
Emmi Bloch zieht es jedoch zur offenen Fürsorge. Sie absolviert Kurs und Praktika mit Bestnoten und arbeitet dann sechs Jahre in der Tuberkulosefürsorgestelle. Dort ist sie sowohl im Innen- wie auch im Aussendienst tätig, macht Hausbesuche – jährlich bis zu 1200 – und hilft bei den ärztlichen Sprechstunden, erledigt Korrespondenz und Aktenführung. Ihr Jahresgehalt beträgt 2000 Franken. Bloch ist eine der ersten Sozialarbeiterinnen in der Schweiz, die entlöhnt werden.
Im Jahr 1916 beginnt sie als Leiterin in der Zürcher Frauenzentrale, der Dachorganisation der 14 Frauenvereine. Dort vermittelt sie Frauen Erwerbsmöglichkeiten, informiert über Hilfsangebote wie Kuraufenthalte und koordiniert diese. Es gibt auch Wärme- und Flickstuben sowie ein Mietzinsbüro, um zahlungsunfähig gewordene Mieterinnen zu unterstützen.
Mit dem Professionalisierungsschub wächst die öffentliche Anerkennung der Sozialen Arbeit. Frauen werden in Kommission entsandt und zu politischen Konferenzen eingeladen. Bloch nutzt solche Auftritte, um für die Berufsbildung von Frauen zu weibeln. Dass Frauen beruflich tätig sind, ist für sie ein gesellschaftlicher Auftrag, eine «Berufung zur Mitarbeit an den grossen Leistungen, die notwendig sind, dass die Gesamtheit leben kann», wie sie schreibt. Ausserdem sieht sie darin eine emanzipatorische Befähigung, sich von häuslicher Gewalt und einem «Parasitenleben ohne Ehre und Ehrlichkeit» zu lösen.
Fürs Frauenstimmrecht
Bloch ist Mitglied des Zürcherischen Stimmrechtsvereins, ab 1917 engagiert sie sich öffentlich für das Frauenstimmrecht. Sie publiziert vorwiegend in der «Neuen Zürcher Zeitung», in der «National-Zeitung» und natürlich im «Schweizer Frauenblatt», dessen Chefredaktorin sie zwischen 1933 und 1943 ist. Zudem unterrichtet sie während fast drei Jahrzehnten das Fach Frauenfragen, unter anderem an der Sozialen Frauenschule und an der Volkshochschule.
Die Fürsorgearbeit zeigt der Sozialreformerin die Notwendigkeit des Stimmrechts als Arbeitsmittel auf: Über zu sprechende Gelder und Konzessionen wird in Sitzungen gesprochen, ohne dass Frauen anwesend sind und über den Verwendungszweck der Gelder Auskunft geben können. Doch sie ist zuversichtlich, 1919 schreibt sie: «Die Zeit des Frauenstimmrechts ist gekommen. Ihm wird sich auch die Schweiz nicht verschliessen können.» Die Schweizer Männer sehen das anders, noch weitere 52 Jahre lang.
Gesundheitlich angeschlagen
Bei allem Engagement ist Bloch eine typische Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie will nicht konfrontieren, sondern vermitteln. Sie zementiert die weibliche Doppelbelastung, indem sie für eine zweifache Berufsbildung plädiert, sowohl in Hauswirtschaft wie auch für eine Erwerbstätigkeit. Wie das zu schaffen sei, wird sie sogar von Männerseite kritisiert. Sie bleibt die Antwort schuldig – oder gibt sie indirekt mit ihrem eigenen Beispiel: der totalen Hingabe an die Berufung.
Diese Hingabe erfüllt sie, erschöpft sie aber auch. Schon als junge Frau leidet sie oft unter gesundheitlichen Problemen, Bronchialkatarrh, Angina, Überanstrengung. Sie muss häufig pausieren und zur Kur fahren. Bei einem Wandervogel-Ausflug 1916 im Wallis verletzt sie sich und erleidet einen Schock. Körperliche Schäden bleiben keine zurück, psychische möglicherweise schon, zum Beispiel leidet sie zunehmend unter Platzangst. Ausserdem setzen ihr immer wieder antisemitische Anfeindungen zu.
Kosmische Aufgabe zur Mutterschaft
Emmi Bloch hofft, das mütterliche Potenzial von Frauen in politische Macht umwandeln zu können. So fördert sie jene Berufe, die ihrer Ansicht nach mit Mütterlichkeit verbunden sind, also keine Handelsberufe. Die Hausfrauenarbeit und «die kosmische Aufgabe zur Mutterschaft» versteht sie als «ureigenste Frauenarbeit».
Bei Bloch findet selbst Mutterschaft in «geistig-seelischen Bezirken» statt: Sie bleibt unverheiratet, hat keine Kinder. Bis im Alter von 42 Jahren lebt sie bei ihren Eltern, dann nimmt sie mit einer Freundin, der Sozialarbeiterin und Berufsberaterin Anna Mürset, eine Wohnung. 1944, nach ihrer frühzeitigen Pensionierung, zieht sie in ein Haus nach Uerikon am Zürichsee und lebt dort bis zu ihrem Tod 1978 mit einem Dienstmädchen.
Bloch pflegt viele und enge Freundschaften, mit Männern wie auch mit Frauen. Warum kommt es nie zu einer offiziellen Beziehung oder gar Ehe? Wir wissen es nicht. Stets trennt sie Privates und Berufliches und verfügt, dass alle Tagebücher nach ihrem Ableben verbrannt würden. Mit einer Ausnahme hält sich Emmi Blochs Neffe und Nachlassverwalter daran.
Veranstaltung «100 Jahre organisierte Soziale Arbeit in Zürich»
Was mit fürsorgerischen Massnahmen zur Armutsbekämpfung begann, ist heute eine methodisch und theoretisch fundierte Profession mit Hochschulausbildung. Massgeblich für die Entwicklung der Sozialen Arbeit war, dass sich die Fürsorgestellen organisierten und zusammenschlossen. Einer dieser Verbunde war der im Jahr 1921 von Emmi Bloch gegründete Zürcherische Berufsverein Sozialarbeitender.
Die Veranstaltung im Rahmen unserer Reihe «Um 6 im Kreis 5» würdigt 100 Jahre Berufsverband und Professionsentwicklung sowie den gesellschaftlich-politischen Wahrnehmungswandel der Sozialen Arbeit.