«Die einen kochen gerne Fisch, für andere ist dieser Geruch unerträglich. Da müssen wir vermitteln»
Wie geht interkulturelle Arbeit bei einem Asylzentrum? Ein Tag im Leben der soziokulturellen Animatorin Jenny Bolliger – wenn nicht gerade Corona-Ausnahmezustand herrschen würde.
aufgezeichnet von Regula Freuler
«Es ist leider so: Seit fast einem Jahr sind soziokulturelle Aktivitäten extrem eingeschränkt, natürlich auch bei uns im Asylbereich. Gemeinsam mit zwei Kollegen bin ich für das soziokulturelle Angebot im Begegnungsraum beim Bundesasylzentrum im Kreis 5 zuständig. Der Standort BAZ, wie wir ihn nennen, wird als Aussenstelle des Gemeinschaftszentrums Wipkingen geführt. Die Idee ist, dass sich Bewohnende und Menschen aus dem Quartier treffen und austauschen. Das BAZ ist schweizweit das einzige, das sich mitten in einer Stadt befindet. Und das einzige mit einem öffentlich zugänglichen Raum.
Es wurde im November 2019 eröffnet. Doch schon nach wenigen Monaten mussten wir wegen der Corona-Pandemie unser Angebot reduzieren. Begegnungen mit interessierten Menschen aus dem Quartier sind derzeit unmöglich. Aktuell bieten wir Aktivitäten für asylsuchende Kinder und Jugendliche an. Vor Corona hatten wir Kapazitäten für 50 Personen im Raum, jetzt dürfen sich drinnen höchsten noch fünf Erwachsene aufhalten. Das sind sehr wenige, wenn man bedenkt, dass im ganzen BAZ Platz für 360 Asylbewerbende ist.
«Die Leute kommen direkt von ihrer Fluchtroute hierher. Sie sind müde, sie sind besetzt von ihrer Sorge um Asyl und um eine sichere Zukunftsperspektive.»
Jenny Bolliger, soziokulturelle Animatorin
Wenn jemand von ihnen im Begegnungsraum spielen oder etwas kochen möchte, koordinieren wir das vorgängig mit den Betreuenden vom BAZ. Die Spontanität fällt dadurch weg. Das ist besonders schade, weil eine exakte Terminplanung mit den asylsuchenden Menschen grundsätzlich schwierig ist. Das haben wir sehr rasch gemerkt: Es ist elementar, dass die Dinge ad hoc ablaufen. Und dass die Menschen jederzeit ein- und wieder aussteigen können.
Mit eigenen Gewürzen kochen
Ein Beispiel: Letztes Jahr organisierten wir eine Aussenraumausstellung mit einem afghanischen Künstler, der schon länger in der Schweiz lebt. Wir stellten auch leere Wände auf und luden die Besucherinnen und Besucher ein, sich spontan inspirieren zu lassen und eigene Bilder zu gestalten. Das hat gut geklappt, es kamen viele schöne Werke zustande.
Aber wenn wir das vorher ausgeschrieben hätten, wäre das zu abstrakt gewesen. Die Leute kommen direkt von ihrer Fluchtroute hierher. Sie sind müde, sie sind besetzt von ihrer Sorge um Asyl und um eine sichere Zukunftsperspektive, sie müssen sich erst einmal zurechtfinden im BAZ. Ausserdem sind der Zentrumsalltag sowie das Asylverfahren, in dem sich die Bewohnenden befinden, schon stark strukturiert.
Ein Tag im offenen Treff des Begegnungsraums – ohne Corona-Ausnahmezustand – könnte so aussehen: Am Vormittag erledige ich Administratives, beantworte E-Mails, koordiniere mich mit der BAZ-Leitung oder Freiwilligen, kläre den Bedarf nach Aktivitäten. Um die Mittagszeit herum öffnen wir den Raum.
Dann trudeln nach und nach Besucherinnen und Besucher ein. BAZ-Bewohnende wollen oft einfach nur einen Kaffee trinken oder Dinge tun, die im Zentrum nicht möglich sind. Zum Beispiel ein Kleid flicken, mit eigenen Gewürzen kochen, Freunde treffen, die sich bereits in der Schweiz aufhalten, einen Kindergeburtstag feiern.
Hemmschwelle ist hoch
Der Raum ist für viele eine Art Wohnzimmer. Vor Corona kamen oft so viele Menschen, dass wir einige auf später vertrösten mussten. Asylsuchenden Menschen kommen in den Begegnungsraum, um eine Auszeit zu haben oder etwas zu tun. Wenn das mit fremden Menschen gelingt, ist das okay, aber es ist nicht ihr grundlegendes Anliegen, Fremde kennenzulernen.
Anders die Anwohnerinnen und Anwohner aus dem Quartier. Interessierte kommen oft mit Fragen zum Verfahren, dem BAZ, Asylthemen. Wir hätten aber nie gedacht, dass die Hemmschwelle so hoch ist. Einfach bei einem offenen Treff vorbeizuschauen, einen Kaffee trinken und ein Gespräch mit anderen Anwesenden – soweit es möglich ist – anzufangen, scheint schwierig. Es wird einfacher, wenn wir ihnen eine Aufgabe zuteilen, zum Beispiel ein Spiel anzuleiten.
Manchmal stellen uns Leute auch einfach Taschen voller Kleider und Kindersachen vor unsere Türe, ohne vorher abzuklären, was gebraucht wird. Das ist ein heikler Punkt in der interkulturellen Arbeit. Wir wollen niemanden vor den Kopf stossen, denn er oder sie kommt ja mit besten Absichten. Aber wir möchten Begegnungen auf Augenhöhe fördern und die Besucherinnen und Besucher einladen, partizipativ den Ort mitzugestalten.
Interkulturelle DJ
Letztlich geht es um die Frage: Wie bauen wir Brücken? Ich sage immer allen, die sich einbringen wollen, sie sollen Zeit mitbringen. Man muss den asylsuchenden Menschen Zeit geben, sich auf andere oder eine Aktivität einzulassen. Dafür eignen sich Aktivitäten, welche auch ohne Sprache gut funktionieren und nicht ein vorgefertigtes Machtgefälle mit sich bringen. Zum Beispiel gemeinsam Musik machen. Dabei können sich viele Fertigkeiten entfalten. Das alles braucht viel Koordination. Zum Glück haben wir die Unterstützung von zahlreichen Freiwilligen.
Ein anderer Aspekt der interkulturellen Arbeit betrifft die Vermittlung innerhalb der Kulturen und Altersgruppen von Asylsuchenden. Wenn Jugendliche laut Musik hören wollen und der Raum dann einem Jugendtreff ähnelt, ziehen sich Familien mit kleinen Kindern zurück. Da müssen wir interkulturelle DJ sein und schauen, dass alle zum Zug kommen.
Oder das Kochen. Die einen bereiten gerne Fisch zu, für andere ist dieser Geruch unerträglich. Nicht anders als in der Schweizer Bevölkerung kommt auch bei den geflüchteten Menschen stereotypes oder vorurteilhaftes Denken vor. Die Dynamik zwischen den ethnischen Gruppen kann extrem sein. Zum einen geht es um politische Konflikte aus den jeweiligen Heimatländern, aber auch um Geschlechterbilder, Hautfarbe, Religion. Da müssen wir helfen, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. Wir haben Verhaltensregeln. Dabei geht es unter anderem darum, wie man einander begegnet. Wer sich nicht daran hält, muss wieder gehen.
Nie ausgelernt
Diese Vermittlung ist keine einfache Aufgabe, wenn es keine gemeinsame Sprache gibt. Auch hier arbeiten wir mit visuellen Mitteln. Meine Erfahrungen im Ausland und als Beiständin und Vertrauensperson von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten helfen mir da. Ausserdem besuche ich Fachtagungen, an denen interkulturelle Dolmetscher erzählen, wie man im Jemen oder in Afghanistan lebt, wie das Schulsystem funktioniert und vieles mehr.
Das ist das Interessante an der interkulturellen Sozialen Arbeit: Der Erwerb von Kompetenzen ist nie abgeschlossen. Das Wichtigste ist meiner Ansicht nach, sich der unterschiedlichen Kommunikation stets bewusst zu sein und laufend zu reflektieren.»
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