«Die Mutter hat praktisch nur geweint»
Die Zustimmungserklärung zur Adoption ist in der Regel in den Akten zu finden. Im Hintergrund aber wurde oftmals starker Druck auf die Mütter ausgeübt. Das zeigt eine Analyse der Adoptionen im Kanton Zug von 1960 bis heute.
von Rahel Bühler, Susanne Businger und Nadja Ramsauer
Die 20-jährige Rosa Bernardi ist ledig – und schwanger mit Zwillingen. Sie bringt die Kinder 1963 im Kanton Zug zur Welt. Kurz nach der Niederkunft gibt sie die Säuglinge zur Adoption frei. In den Akten wird festgehalten, dass die junge Mutter dies «nur schweren Herzens und unter dem Druck der Umstände» tat. Rosa Bernardi, die in Wirklichkeit anders heisst, wie alle in diesem Text betroffenen Mütter, gab ihre Kinder also nicht freiwillig weg. Sie tat es unter Zwang.
Ein Team des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie wollte mehr über die Adoptionen und den Umgang der Behörden mit den zumeist ledigen Müttern im Kanton Zug wissen. Dafür wurden elf Interviews erneut ausgewertet, die im Rahmen des Forschungsprojekts «Domestic Adoption in Switzerland» unter der Leitung von Thomas Gabriel geführt wurden.
Menschliche Tragödien
Zudem wurden 84 Fallakten analysiert, welche Inlandsadoptionen von 1960 bis heute dokumentieren. Einige Unterlagen dieser Zuger Adoptionsverfahren umfassen bloss wenige Seiten, andere sind mehrere Aktenbündel dick. Verfasst wurden alle Akteneinträge von Behörden und Mitarbeiterinnen der Vermittlungsstellen. Insbesondere die Adoptionsvermittlerinnen nehmen in diesen Verfahren eine ambivalente Rolle zwischen Beratung und Druckausübung ein.
Beim Studieren der Fallakten zeigt sich rasch, dass stets die Rechtmässigkeit und Freiwilligkeit der Adoptionen betont wird. Sie enthalten in der Regel auch die vom Gesetz vorgeschriebene und von der Mutter unterzeichnete Zustimmungserklärung. Die menschlichen Tragödien hinter der Behördensprache lassen sich trotzdem nicht gänzlich verbergen. Zum Beispiel, wenn der Sekretär des Zuger Einwohnerwaisenamtes festhält, dass eine minderjährige Mutter bei der Unterzeichnung der Erklärung «praktisch nur geweint» habe.
Das «Ausserehelichenproblem»
Der Sekretär forderte die involvierte Adoptionsvermittlerin auf zu prüfen, ob die Kindsmutter wirklich aus freien Stücken auf das Kind verzichte. Es stellte sich heraus, dass die Frau von ihrem Umfeld unter Druck gesetzt wurde, das Kind zur Adoption zu geben. Diese Erkenntnis änderte nichts an der Situation. Weder Adoptionsvermittlerin noch Behörden intervenierten. Die minderjährige Mutter musste ihr Kind zur Adoption geben, genauso wie Rosa Bernardi ihre Zwillinge.
Es ist kein Zufall, dass diese beiden Frauen ledig waren. Bis in die 1970er-Jahre waren es vor allem unverheiratete Frauen, die ein Kind zur Adoption gaben. Die uneheliche Schwangerschaft war zu dieser Zeit noch ein gesellschaftliches Tabu. Und zwar nicht nur in der Öffentlichkeit. Auch in Wissenschafts- und Fürsorgekreisen war die negative Einstellung gegenüber der ledigen Mutterschaft verbreitet. Der Psychiater Hans Binder hielt Anfang der 1940er-Jahre in einer viel zitierten Publikation fest, dass nur ein Drittel der ledigen Mütter «psychisch normal» und «zu einer uneingeschränkten Zuneigung zum Kinde fähig» sei. Namhafte Jurist:innen, Behördenvertreter:innen und Vermittlerinnen waren überzeugt, dass die beste und kostengünstigste Lösung des «Ausserehelichenproblems» für alle Beteiligten die Adoption sei.
Scham und Stigmatisierung
Die Mütter passten sich diesen Vorstellungen teilweise an. Sie fürchteten, dem Kind kein stabiles Umfeld und keine Geborgenheit bieten zu können, wie es die Gesellschaft erwartete. Die untersuchten Akten und Interviews zeugen auch von der Scham über ein uneheliches Kind und der Angst vor Stigmatisierung.
Scham und Angst waren denn auch die Hauptgründe, weshalb viele Frauen ihre Schwangerschaft vor ihrem Umfeld geheim hielten und die Kinder auswärts gebaren. So etwa eine Genferin, die für die Zeit der Schwangerschaft nach Zug kam, dort das Kind zur Welt brachte und unmittelbar nach der Geburt wieder nach Genf zurückkehrte. Das Kind kam zu Pflegeeltern im Kanton Aargau.
Drohende Armut
Mütter, die ihr Kind zur Adoption gaben, gehörten einkommensschwachen Schichten an. Unter den Zuger Fällen finden sich viele Kellnerinnen, Hausangestellte oder Verkäuferinnen. Denn neben Scham und Angst vor Stigmatisierung gab es eine weitere Sache, die ledige Mütter umtrieb: das Geld. Entlastend war es, wenn der Vater des Kindes Unterhaltszahlungen zahlte.
Schwierig wurde es, wenn der Vater das Kind nicht anerkannte oder die Unterstützung verweigerte. Kaum eine andere Option als die Adoption blieb, wenn ein Vater nicht auffindbar oder unbekannt war und darum nicht zur Unterhaltszahlung verpflichtet werden konnte.
Finanzielle Not
Doch auch wenn der Vater Alimente zahlte, reichte das Geld nicht aus. Ledige Mütter mussten immer auch selbst noch arbeiten, um sich und ihr Kind ernähren zu können. Das zeigt das folgende Beispiel einer Zuger Fabrikarbeiterin. Sie schrieb dem Vormund, dass sie das Kind zur Adoption geben wolle, «da für mich keine Möglichkeit besteht, das Kind zu mir zu nehmen. Ich sorge nämlich für mein jüngstes Mädchen aus meiner Ehe selber, und ich habe keinen so grossen Verdienst, dass ich mit einem kleinen Kindli durchkommen könnte. Denn ich könnte ja nicht mehr in die Fabrik gehen.»
Unterstützung vonseiten des Staats für Alleinerziehende gab es kaum, Tagesstrukturen waren in der gesamten Schweiz noch rar und sowieso unerschwinglich für diese Frauen. Ledige erwerbstätige Mütter waren deshalb für die Kinderbetreuung auf ihr unmittelbares Umfeld angewiesen. Insbesondere auf ihre eigenen Mütter.
Fehlende familiäre Unterstützung
Dass eine schwangere ledige Frau wenig Alternativen zur Adoption hatte, wenn sich die Mutter weigerte, das Grosskind zu betreuen, zeigt das Beispiel einer 23-jährigen Zuger Verkäuferin aus den 1970er-Jahren. Sie plante, zu ihren Eltern zu ziehen, ihnen nach der Entbindung das Kind anzuvertrauen und von dort aus einer Arbeit nachzugehen.
Diese Pläne zerschlugen sich, weil sich ihre Mutter sträube, diese grosse zusätzliche Belastung anzunehmen. Sie habe sonst schon viel zu tun, es seien noch kleinere Geschwister da, und die Mutter sei auch nicht mehr die jüngste mit 55 Jahren. Sie begreife es schon und sie wolle ja ihrer Mutter wirklich nicht noch Zusätzliches aufbürden. Wahrscheinlich sei es ihr auch unangenehm wegen der Nachbarschaft. Die Frau entschied sich, ihr Kind zur Adoption zu geben.
Druck der Familie und der Behörden
Es waren also auch Mütter, die ihre Töchter zur Adoption drängten. Etwa, wenn sie sich aus finanziellen Gründen, wegen eigener Überlastung, Krankheit oder hohen Alters nicht um das Neugeborene kümmern konnten. Oder auch, wenn sie sich für das uneheliche Grosskind schämten. Die Väter der Schwangeren treten kaum in Erscheinung. So erzählte eine Interviewte, dass nur ihre Schwester und ihre Mutter eingeweiht waren, dem Vater wurde die Schwangerschaft verheimlicht. Beim Adoptionsentscheid spielten also Armut oder drohende Armut stets eine entscheidende Rolle.
Doch die ledigen Mütter wurden nicht nur vonseiten ihres privaten Umfelds unter Druck gesetzt, auch der Staat hatte eher seine eigenen Interessen im Blick als das Wohl von Mutter und Kind. Zwar betonten Behördenvertreter:innen und Vermittlerinnen regelmässig, dass die Frauen den Adoptionsentscheid wohlüberlegt und ohne äusseren Druck fällen sollten und dass die Gefahr voreiliger Zustimmung, insbesondere in der vulnerablen Zeit unmittelbar nach der Geburt, gross sei.
In der Realität konfrontierten Behördenvertreter:innen die schwangeren ledigen Frauen jedoch oft schon beim ersten Kontakt mit dem Kostenargument und drängten auf eine rasche Entscheidung. Auch hierzu war der Grund das Geld: Eine Platzierung des Kindes bei einer Pflegefamilie zwecks späterer Adoption war für die Behörden gratis und mit wenig bürokratischem Aufwand verbunden. Behielten die Mütter ihre Kinder, bestand Gefahr, dass sie der öffentlichen Unterstützung bedurften.
Änderung durch Revision des Kindesrechts
Auch die eingangs erwähnten Adoptionsvermittlerinnen setzten die Mütter teils subtil, teils offen unter Druck. In Zug waren vor allem das Seraphische Liebeswerk, ein katholisches Hilfswerk, sowie die Private Mütter- und Kinderfürsorge aus Rapperswil aktiv. In den untersuchten Akten zeigt sich wiederholt, dass deren Mitarbeiterinnen keine neutrale oder beratende Position einnahmen, sondern die Adoption forcierten.
Das zeigt auch das Beispiel der 25-jährigen Petra Käser. Sie war ledig und schwanger und wollte ihr Kind behalten. Die Fürsorgerin des Seraphischen Liebeswerks machte die junge Mutter darauf aufmerksam, dass der Adoptionsentscheid nicht sofort gefällt werden müsse. Gleichzeitig wies sie Petra Käser aber darauf hin, dass vom Kindsvater keine Alimente zu erwarten seien und sie den Pflegeplatz nicht lange selbst finanzieren könne. Sie setzte Petra Käser also offensichtlich kurz nach der Geburt unter Druck, einer Adoption zuzustimmen. Ein Brief der Vormundschaftsbehörde an die Fürsorgerin bestätigt dies: «Der Rat wird Sie in Ihren Adoptionsbemühungen nach besten Kräften unterstützen und versucht, in den nächsten Tagen die Unterschrift für die Adoption beizubringen.»
Wandel im Kindesrecht und die Pille
Die Stellung lediger Mütter besserte sich erst 1976, als durch die Revision des Kindesrechts uneheliche und eheliche Kinder gleichgestellt wurden. Ledige Mütter befanden sich zwar weiterhin in prekären Verhältnissen. Neu stand die elterliche Gewalt aber von Gesetzes wegen der Mutter zu und es bedurfte keiner Übertragung durch die Vormundschaftsbehörde mehr, wie das zuvor der Fall war.
Neue Verhütungsmethoden wie die Antibabypille führten ausserdem dazu, dass weniger Frauen ungewollt schwanger wurden. Kinder lediger Mütter standen damit nun seltener für eine Adoption zur Verfügung und Inlandsadoptionen nahmen ab Ende der 1970er-Jahre ab. Bei den wenigen Inlandsadoptionen, die es nun noch gab, veränderten sich die Ausgangslage und die Familienkonstellation. Sie waren zunehmend eine selten gewählte Option bei Familien, in denen zumindest ein Elternteil psychisch erkrankt war oder von Suchtmitteln abhängig war. Die nach wie vor grosse Nachfrage adoptionswilliger Paare verschob sich schweizweit und auch in Zug zusehends auf Kinder aus dem Ausland.
Lebenslange Spuren
Die Adoptionspraktiken von damals prägen das Leben und Wohlbefinden Betroffener bis heute. Für die Adoptierten ist es belastend, die eigene Herkunft nicht zu kennen. Für die Mütter war der vollständige Kontaktabbruch zu ihren Kindern eine lebenslange Belastung. Alle von uns Interviewten erzählten, wie ihnen der Schritt bis heute Mühe machte. Einige berichteten von ihren dadurch ausgelösten psychischen Problemen. Viele Mütter versuchten Jahre später, den Kontakt zu ihren Kindern wiederherzustellen.
RAHEL BÜHLER und SUSANNE BUSINGER sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, NADJA RAMSAUER ist Dozentin. Sie arbeiten am Institut für Kindheit, Jugend und Familie und leiteten gemeinsam die Studie «Adoption in Zwangssituationen». Deren Ergebnisse werden in den Synthesebänden des Nationalen Forschungsprogramms 76 «Fürsorge und Zwang» im Frühjahr 2024 im Schwabe-Verlag publiziert.