Diversität will geübt sein – zum Beispiel in der Schulsozialarbeit
Workshops können Schulklassen für vielfältige sexuelle Orientierungen sensibilisieren. Dazu gehören aber eine gute Vor- und Nachbereitung. Das sagen Lino Sibillano vom Verein «GLL – das andere Schulprojekt» und Simon Benz, Schulsozialarbeiter und ZHAW-Absolvent.
Interview: Melanie Keim
Simon Benz, seit vier Jahren laden Sie «GLL – das andere Schulprojekt» für Workshops ein. Welche Erfahrungen haben Sie als Schulsozialarbeiter dabei gemacht?
Simon Benz: Das Wichtigste merkte ich gleich nach der ersten Durchführung: Es braucht von unserer Seite – also von der Schulsozialarbeit, aber auch von den Lehrpersonen – mehr, als Personen von GLL einfach nur einzuladen, die dann mit den Schülerinnen und Schülern reden. Aus dieser Erfahrung heraus entstand der Workshop «Mini Meinig, dini Meinig». Er findet jeweils eine Woche vor dem GLL-Besuch in der Klasse statt. Die Jugendlichen beschäftigen sich mit der Frage: Wie gehe ich damit um, wenn jemand etwas sagt, das mich triggert? Mit dem Workshop wollen wir eine respektvolle, von Akzeptanz geprägte Diskussionskultur schaffen, auf die man während des Besuchs von GLL, aber auch später Bezug nehmen kann.
«Hat eine Lehrperson Mühe mit Diversität und will darum nicht an einem Workshop teilnehmen, ist das für mich nicht tragbar.»
Simon Benz, ZHAW-Absolvent und Schulsozialarbeiter an der Schule Hedingen (ZH)
Lino Sibillano, Sie besuchen für GLL regelmässig Schulklassen. Merken Sie jeweils, ob eine Klasse vorbereitet wurde oder nicht?
Lino Sibillano: Auf jeden Fall spürt man rasch, welche Diskussions- und Gesprächskultur in der Klasse gepflegt wird. Wie unsere Besuche verlaufen, hängt auch stark von der Haltung der Lehrperson und dem Umgang mit Diversität an der Schule ab. Es ist sehr wertvoll, wenn die Klasse geübt ist, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen umzugehen und darüber zu reden. Die Jugendlichen sind dann offener und können eher eigene Meinungen respektvoll einbringen und allenfalls überdenken. Auch ist ihre Bereitschaft zur Empathie grösser, wenn ich ihnen aufzeige, was Intoleranz und Hass im Alltag für mich als queerer Mensch bedeuten. Wenn der Umgang mit Diversität an einer Schule nicht gepflegt wird, kann es schon auch heftige Reaktionen auf unsere Besuche geben.
«Man darf nicht vergessen, dass es statistisch gesehen in jeder Klasse ein bis zwei queere Schülerinnen und Schüler gibt.»
Lino Sibillano, Vorstandsmitglied von «GLL – das andere Schulprojekt»
Können Sie ein Beispiel nennen?
Sibillano: Es gab einen Fall, bei dem eine Lehrperson im Voraus mitteilte, dass sie aus religiösen Gründen beim Besuch nicht anwesend sein werde. Unser Team traf dann im Klassenzimmer auf ablehnende und intolerante Haltungen, die verletzend und aggressiv zum Ausdruck gebracht wurden. Das war nicht nur für das Team emotional belastend, sondern es litten auch jene Jugendlichen darunter, die interessiert waren und mitmachen wollten. Zum Glück ist eine so extreme Situation nicht der Normalfall. In der Regel erfahren wir ganz viele tolle Begegnungen mit offenen, neugierigen und dankbaren Jugendlichen und Lehrpersonen. Es beeindruckt sie, dass jemand so offen über etwas Persönliches spricht.
Benz: Wir erlebten auch schon ähnlich herausfordernde Situationen, obwohl die Besuche gut vorbereitet waren. Deshalb ist es wichtig, dass die Lehrperson bei einem Workshop anwesend ist und eingreifen kann. Ideal wäre, wenn sie die Teamleitung von GLL vor dem Workshop über Gruppendynamiken in der Klasse informiert und man gemeinsam ein Zeichen vereinbart, damit die Lehrperson weiss, wann sie einschreiten soll.
Sibillano: Auch wir von GLL verlangen, dass die Lehrpersonen bei den Workshops dabei sind. Wir erachten es als ihre Pflicht zu wissen, was die Thematik bei den Jugendlichen auslöst. Sind die Jugendlichen verunsichert, irritiert, aggressiv? Gibt es nachher einen Gesprächsbedarf? Hat jemand vielleicht den Ansatz eines Coming-Outs gemacht? Man darf nicht vergessen, dass es statistisch gesehen in jeder Klasse ein bis zwei queere Schülerinnen und Schüler gibt.
Was kann man als Schulsozialarbeiter oder Schulsozialarbeiterin tun, wenn man merkt, dass eine Lehrperson Mühe mit dem Thema sexuelle Orientierung und Diversität bekundet?
Benz: Ich kann proaktiv auf die Lehrperson zugehen und ihr anbieten, darüber zu reden. Doch ich habe nur eine Chance, wenn die Lehrperson sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Thema einlässt. Hat sie Mühe mit Diversität und will darum nicht an einem Workshop teilnehmen, ist das für mich nicht tragbar. Dann geht es um einen Leitungsentscheid, den die Schulleitung übernehmen muss.
Sollten Schulen sich klar zu Diversität bekennen und diese Besuche auch gegenüber Eltern kommunizieren?
Benz: Wir haben uns bewusst gegen eine solche Form von Kommunikation entschieden. Wir kommunzieren ja auch nicht, dass wir neue Themen in der Mathematik einführen. Weshalb sollten wir also darüber informieren, dass queere Menschen bei uns an die Schule kommen?
Welchen Stellenwert haben die Besuche von GLL für die tägliche Arbeit gegen Homo- und Transphobie und die Stärkung von Vielfalt an Ihrer Schule?
Benz: Obwohl es nur um drei Lektionen geht, hat das Projekt eine wichtige Bedeutung bei uns. Die Personen von GLL haben ganz andere Möglichkeiten für die Präventionsarbeit als Lehrpersonen oder Sozialarbeitende. Mit ihren Erzählungen über ihr Coming-Out oder ihre Diskriminierungserfahrungen können sie die Jugendlichen auf einer ganz anderen Ebene abholen.
Was bedeuten die Besuche für Sie als Schulsozialarbeiter?
Benz: Sie bieten mir eine Chance, mich zu positionieren. Die Jugendlichen kennen mich und wissen, wofür ich stehe und dass ich unter Schweigepflicht stehe. Doch es braucht Mut und Vertrauen, dass sie proaktiv zu mir kommen. Deshalb müssen sie immer wieder sehen können, dass ich eine Offenheit bei Fragen rund um Sexualität und sexuelle Orientierung habe. Das kann ich in den Workshops sowie in der Vor- und Nachbereitung auf eine natürliche Weise zeigen.
Die Auseinandersetzung mit sexueller Identität und Vielfalt ist heute präsenter als früher. Macht das die Arbeit einfacher?
Sibillano: In der heutigen Zeit ist es für die Jugendlichen anspruchsvoll, herauszufinden, was ihre Sexualität und Identität ist, weil das Spektrum offener ist, aber auch weil sie durch die sozialen Medien früh mit Bildern von Sexualität konfrontiert werden. Da gibt es sehr viele Klischees und Fehlinformationen. Und es entsteht ein Druck, wie die eigene Sexualität sein sollte. Ich finde, dass unsere Besuche nicht zu spät stattfinden sollten, also eher bevor die Jugendlichen voll in der Pubertät sind und mit dem Leistungsdruck im Hinblick auf Sexualität konfrontiert sind. Wenn sie noch jünger sind, sind sie offener für die geschlechtliche Vielfalt.
Wie betten Sie die Besuche von GLL in ein Schuljahr ein, damit sie nachwirken?
Benz: Nach dem Besuch öffnen wir in einer Lektion, in der ich auch dabei bin, noch einmal den Raum für Fragen. Manchmal bricht dann noch einmal etwas auf, das man aufgreifen kann. Dass die Besuche von GLL gut eingebettet sind, ist das eine. Das andere ist eine Kulturentwicklung an der Schule, die im Alltag stattfinden muss. Da geht es um Werte und Haltungen, den Umgang mit homophoben Äusserungen. Wenn ich Jugendliche auf dem Pausenplatz auf solche Äusserungen anspreche, höre ich von ihnen häufig: «Jetzt ist es aber auch einmal gut mit diesem Thema.»
Wie reagieren Sie darauf?
Benz: Ich lade die Jugendlichen dazu ein, mit mir den Schulplan «auseinanderzunehmen» und zu schauen, in wie vielen Lektionen es wirklich um sexuelle Identität geht. Ich erhoffe mir davon, dass ihnen bewusst wird, dass sie das Thema auf einer persönlichen Ebene stresst und sie vielleicht deshalb das Gefühl haben, dass es nur noch darum geht. Wenn sie das einmal erkannt haben, kann man als Schulsozialarbeiter auf einer anderen Ebene über das Thema sprechen. Das ist zwar herausfordernd, ja nervenaufreibend. Aber der Job als Sozialarbeiter bedeutet eben auch, dass man sich solchen Vorwürfen der Jugendlichen stellt und sie ernst nimmt.
Was ist Ihre grösste Herausforderung bei Schulbesuchen?
Sibillano: Die knappe Zeit. Wenn ein junger Mensch sich extrem homophob äussert, brauche ich Raum, um das genau anzuschauen. Es kommt vor, dass Jugendliche sagen: «Wenn ich schwul wäre, würde mich mein Vater erschiessen. Und ich finde das gut so.» Dann können wir anschauen, was es dem Jugendlichen emotional gibt, wenn er mir so etwas sagt. Doch das braucht Zeit, und diese fehlt meist in den Workshops. Es ist wichtig, dass die Schulen wissen, dass wir mit unseren Besuchen Präventionsarbeit leisten und sich diese nicht zur Krisenintervention und Konfliktlösung eignen.
Benz: Für mich ist der schwierigste Teil das Dranbleiben im Klassenalltag, bei dem ich als Sozialarbeiter halt oft nicht dabei bin. Wenn ich in einer Sitzung die Lehrpersonen auf Haltungsfragen anspreche, geht es immer auch um meine Legitimation, weil ich ja nicht unterrichte und nie in einer Sanktionslogik drin bin. Wenn Lehrpersonen sehen, dass ich auf dem Pausenplatz präsent bin und dort auch etwas sage, gibt das einen guten Boden. Und es braucht viel Wertschätzung für die Arbeit von Lehrpersonen. Wo es eine Beziehung und Vertrauen gibt, kommt man auch in einen Dialog, in dem es andere Meinungen verträgt. Das ist dasselbe wie bei meiner Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern.
GLL - das andere Schulprojekt
Der gemeinnützige Verein GLL – das andere Schulprojekt bietet seit mehr als 20 Jahren Workshops zum Thema sexuelle Orientierung für Schulen in der Deutschschweiz an. Bei den halbtägigen Schulbesuchen erzählen queere Menschen von ihrem eigenen Coming-Out und Eltern vom Coming-Out ihres Kindes, zudem wird Anderssein mit spielerischen Übungen thematisiert. Neben den Klassenbesuchen bietet der Verein auf Anfrage Weiterbildungen und Fachinputs für Lehrpersonen oder Sozialarbeitende an. GLL steht für «Gleichgeschlechtliche Liebe Leben», in den Workshops wird aber längst nicht mehr nur über gleichgeschlechtliche Liebe gesprochen, und im Verein sind Menschen mit diversen geschlechtlichen Orientierungen und Identitäten aktiv.