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Soziale Arbeit

Experte zu Kesb-Gutachten: «Die Politik muss merken, dass sich gute Arbeit im Kindesschutz rechnet»

Ein Kesb-Gutachter wird gebüsst, der Nationalrat fordert qualitative Standards: Woran hapert es im Kindesschutz? Es braucht verbindliche Leitlinien und evidenzbasierte Methoden, sagt David Lätsch vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie.

«Ich wüsste nicht, wie der Schock einer abrupten Fremdplatzierung eine positive Wirkung haben könnte»: David Lätsch, Psychologe und ZHAW-Dozent. (Bild: iStock)

Interview: Regula Freuler

Vor Kurzem wurde ein Kesb-Gutachter von der Berufsethikkommission der Föderation der Schweizer Psychologen (FSP) in mehreren Beschwerdefällen mit Bussen von insgesamt 12'000 Franken sanktioniert. Wie schätzen Sie den Fall ein?
David Lätsch: Wenn ich die Arbeit eines Gutachters beurteilen würde, obwohl ich den Fall nicht im Detail kenne, würde ich mich selber ad absurdum führen. Aber die Fragen, die der Fall aufwirft, weisen über diesen hinaus.

Wie meinen Sie das?
Wir müssen uns kritisch damit auseinandersetzen, ob wir grundsätzlich ein Problem mit der Qualität von Gutachten im Familienrecht und speziell im Kindesschutz haben. Vermutlich haben wir eins. Von Gutachterinnen und Gutachtern höre ich immer wieder, dass es schwarze Schafe gibt. Dabei geht es gar nicht um solche berufsethischen Verstösse, wie sie mutmasslich in dem angesprochenen Fall vorkamen. Es geht um Gutachten, die methodisch schwach sind.

Woran liegt das?
Daran, dass es nicht genügend qualifizierte Gutachterinnen und Gutachter gibt. Die Anforderungen an die Tätigkeit sind hoch: Man braucht ein abgeschlossenes Psychologiestudium, eine Weiterbildung in Rechtspsychologie – das geht ins Geld. Zudem sind gute Kenntnisse in klinischer Psychologie und Entwicklungspsychologie gefordert. Auch muss man die Systeme des Familienrechts, des Kindesschutzes und der Kinder- und Jugendhilfe gut kennen. Und der Job ist nicht nur schwierig, sondern auch hart: Fast immer hat man es mit zerfahrenen Situationen zu tun, oft macht man sich bei mindestens einer Partei unbeliebt, im schlimmsten Fall wird man angefeindet oder bedroht. Man muss ein feines Sensorium haben, um ein guter Gutachter zu sein, und eine dicke Haut, um es lange zu sein. Das alles schreckt wohl viele ab. Zugleich haben wir kein rechtsverbindliches Approbationsverfahren für Gutachtende. So kommen Personen, die die genannten Kriterien nicht erfüllen, dennoch zu Aufträgen. Die Behörden und Gerichte können mangels Alternativen gar nicht anders.

«Ein wichtiger Schritt ist sicher, dass die Fachverbände in der jüngeren Vergangenheit Leitlinien formuliert haben. An diesen sollten sich jedoch nicht nur die Gutachtenden orientieren, sondern auch die bestellenden Gerichte und Behörden, welche die Gutachten ihrerseits beurteilen und in die Entscheidfindung integrieren.»

David Lätsch, ZHAW-Dozent und -Forscher

Dem verurteilten Gutachter wird vorgeworfen, vorschnell Empfehlungen zu einer Fremdplatzierung auszusprechen, quasi als Schocktherapie.
Die Metapher, wenn sie tatsächlich so verwendet wurde, hätte etwas Obszönes. Schocktherapien gab es in der Psychiatrie wirklich: Zum Beispiel liess man Patienten unversehens in einen Bottich kalten Wassers fallen – in der Meinung, ihr Nervensystem dadurch wiederherzustellen. In dieses Zeitalter wohlmeinender oder auch nicht so wohlmeinender Brutalität wollen wir nicht zurück. Ich wüsste nicht, wie der Schock einer abrupten Fremdplatzierung eine positive Wirkung haben könnte, und selbst wenn er sie hätte, würde der Zweck kaum das Mittel heiligen, schliesslich sind wir im Kindesschutz keine Machiavellis, sondern arbeiten nach ethischen Grundsätzen. Was mir aber generell auffällt in Medienberichten zur Fremdplatzierung: Sie werden pauschalisierend als traumatisierende Massnahme bezeichnet. Hier muss man differenzieren. Es gibt Fälle, in denen eine Platzierung der beste Weg ist und sowohl für das betroffene Kind wie auch für die Eltern eine Erleichterung. Ich rede nicht von Hauruck-Methoden, sondern von einem gut vorbereiteten, gut begleiteten Prozess, bei dem alle Parteien involviert sind.

Der Nationalrat hat in der Wintersession eine Motion angenommen. Es soll eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden für qualitative Standards bei Gutachten zum Kinder- und Erwachsenenschutz. Ist eine gesetzliche Grundlage nötig?
Ich freue mich, dass es in der Politik Aufmerksamkeit für das Thema gibt. Zugleich bin ich skeptisch, ob wir die Probleme gesetzgeberisch lösen können.

Warum?
Weil Gesetze nicht der Ort sind, jene präziseren Vorgaben zur methodischen Qualität zu machen, die es braucht. Dafür sind sie zu träge, können nicht schnell genug auf fachliche Entwicklungen reagieren. Vorgaben zur fachlichen Eignung der Gutachtenden scheinen mir sinnvoller, aber diese sind dann auf der gesetzlichen Ebene meist so abstrakt, so formal, dass man die schwarzen Schafe doch nicht einfängt. Der Gutachter in dem vorhin angesprochenen Fall beispielsweise würde formale Kriterien wohl erfüllen. Auch verschärft eine gesetzliche Vorgabe mindestens zu Beginn nur den Mangel an geeigneten Gutachtenden.

Was ist dann der richtige Weg?
Ein wichtiger Schritt ist sicher, dass die Fachverbände in der jüngeren Vergangenheit Leitlinien formuliert haben. An diesen sollten sich jedoch nicht nur die Gutachtenden orientieren, sondern auch die bestellenden Gerichte und Behörden, welche die Gutachten ihrerseits beurteilen und in die Entscheidfindung integrieren. Hier können wir als Hochschulen mit guten Weiterbildungsangeboten etwas beitragen. Und wir müssen darüber nachdenken, wie wir den Beruf des Gutachters für die richtigen Personen attraktiver machen.

Sozialarbeitende, die im Kindes- und Erwachsenenschutz tätig sind, schreiben keine psychologischen Gutachten, jedoch Abklärungsberichte sowie Rechenschaftsberichte bei laufenden Mandaten. Damit nehmen sie ebenfalls grossen Einfluss auf den Verlauf der Verfahren.
Ein wichtiger Hinweis. Wir tun in der Sozialen Arbeit gut daran, nicht nur die Arbeit der anderen, sondern auch die eigene kritisch zu reflektieren. Die Qualität der Abklärungen im Kindesschutz ist eine Baustelle. Glücklicherweise eine, auf der gearbeitet wird.

Und wie sieht das konkret aus?
Die Praxis und auch wir als Hochschulen haben in den letzten Jahren viel unternommen, um die Abklärungen fachlich zu fundieren, sie besser zu machen. Ich selbst war an der Entwicklung eines evidenzbasierten Abklärungsinstruments beteiligt, das inzwischen in vielen Kantonen eingesetzt wird, andere Hochschulen haben an Haltungsfragen gearbeitet. Die Praxis nimmt das auf und treibt es voran. Dennoch dürfen wir nicht zufrieden sein: Es gibt schweizweit noch immer viel zu grosse Schwankungen in der Qualität der Abklärungen.

Woher wissen Sie das?
Weil wir in einer laufenden Studie, die vom Nationalfonds gefördert wird, Abklärungsdossiers sichten und dabei tief ins Methodische blicken. Die gute Nachricht: Es gibt auch weisse Schafe, viele sogar. Nur dürfen wir jetzt nicht lockerlassen. Wir brauchen eine Praxis, die so selbstbewusst ist, dass sie sich Selbstkritik leisten kann. Wir als Hochschulen können und müssen zur Weiterentwicklung der Methoden mit unserer Forschung beitragen. Und die Politik muss merken, dass gute Soziale Arbeit im Kindesschutz nicht nur kostet, sondern sich auch rechnet.