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Soziale Arbeit

Familiencoaching: «Standardlösungen gibt es nicht»

Die Aufgaben der sozialpädagogischen Familienbegleitung sind vielfältig und anspruchsvoll. Wer diesen Beruf ausüben will, benötigt fundiertes Fachwissen, ein betriebliches Konzept – und eine gewisse Begabung. Das sagen drei Fachpersonen.

Dank vielen positiven Erfahrungen hat sozialpädagogische Familienbegleitung in der Schweiz in den vergangenen 20 Jahren etabliert. (Bild: Juliane Liebermann / Unsplash)

Interview: Regula Freuler

Was befähigt jemanden, eine Familie sozialpädagogisch zu begleiten?
Andreas Rhyner: Zentral bei diesem Beruf ist, dass man spontan eine grosse Methodenvielfalt abrufen kann. Dazu kommt ein hoher Grad an Selbstorganisation und Selbstständigkeit. Familienbegleitende oder Familiencoaches, wie man sie auch nennt, können sich im Gespräch mit anderen Fachleuten austauschen, aber ihren Handlungsspielraum müssen sie auf selbstständige Art nutzen können.

Ida Ofelia Brink: Es ist Kreativität und Flexibilität gefragt, denn Standardlösungen gibt es in diesem Beruf nicht. Deshalb erwirbt man in unserem CAS Sozialpädagogische Familienbegleitung, kurz SPF, nicht nur methodisches Wissen, sondern lernt auch viel vom Erfahrungsschatz der Dozierenden.

Hohe fachliche Anforderungen, grosse Verantwortung, belastende Situationen: Ist Familiencoach ein Verschleissjob?
Rhyner: Diese Frage höre ich oft, und die Arbeit ist auch streng. Doch die Antwort lautet: Nein, im Gegenteil. Wenn man die Projektplanung im Griff hat, ist es eine enorm befriedigende Arbeit. Aber die Anstellungsbedingungen müssen stimmen. In der deutschsprachigen Schweiz ist sozialpädagogische Familienbegleitung oft privat organisiert, die Coaches arbeiten in kleinen oder höchstens mittelgrossen Firmen zusammen. Muss man auf Abruf sein oder auf Stundenbasis arbeiten, kann einen das verschleissen. Wir von VORSA lehnen das ab und haben darum in über 20 Jahren wenig Fluktuation gehabt.

«Einfach zu messen, ob sozialpädagogische Familienbegleitung zu mehr oder zu weniger Fremdplatzierungen führt, halte ich für sinnlos und unseriös.»

David Lätsch, Dozent und Forscher ZHAW Soziale Arbeit

Kreativität und Flexibilität klingt nach viel persönlichem Ermessensspielraum und Charaktereigenschaften. Was ist, wenn jemand das nicht mitbringt?
David Lätsch: Im Unterschied zur multisystemischen Therapie, bei der die Fachleute den Therapieplan viel konkreter aufzeigen können, sehe ich hier tatsächlich ein Wagnis.

Rhyner: Es braucht neben der passenden Bildung und den betrieblichen Konzepten eine gewisse Begabung und individuelle Bereitschaft, das ist richtig.

Wie lässt sich dieser Aspekt der Profession in einer Weiterbildung adressieren?
Brink: Indem wir ihn eingehend reflektieren. Die Schwelle zur Privatheit der Familie, die man zu Beginn einer Begleitung übertritt, ist ein zentrales Thema im CAS. Wie stellt man fachliche Nähe her und wahrt dennoch professionelle Distanz? Wie gelingt ein Arbeitsbündnis mit der Familie, damit die Hilfe wirksam werden kann? Um solche Fragen beantworten zu können, mag Begabung helfen, aber ohne methodisches Rüstzeug geht es nicht.

«Die Schwelle zur Privatheit der Familie ist ein zentrales Thema in unserer Weiterbildung.»

Ida Ofelia Brink, wissenschaftliche Mitarbeiterin ZHAW Soziale Arbeit

Die Coaches gehen stundenweise zu Familien nach Hause. Kritische Stimmen sprechen von kaum nachhaltigen Super-Nanny-Einsätzen. Wie wirksam ist sozialpädagogische Familienbegleitung?
Lätsch: Wenn damit wissenschaftliche Belege gemeint sind, muss man sagen: Wir wissen es nicht. Im Vergleich zu Fremdplatzierung, Psycho­ oder Familientherapie ist sozialpädagogische Familienbegleitung eine junge Hilfeform, zu der es kaum Forschung gibt. In einer grossen Studie am Institut für Kindheit, Jugend und Familie versuchen wir derzeit herauszufinden, ob und wie Erwartungen an die sozialpädagogische Familienbegleitung empirisch belegt werden können.

Rhyner: Als wir 1998 angefangen haben, kannte kaum ein Mensch in der Deutschschweiz das Angebot sozialpädagogische Familienbegleitung. Sowohl bei zuweisenden Behörden wie auch bei den Familien selbst musste man zuerst erzählen, was es ist. Bei Fachleuten vor allem aus der Kinder­ und Jugendhilfe kam das Modell sehr schnell gut an. Dank den vielen positiven Erfahrungen hat sozialpädagogische Familienbegleitung sich etabliert. In der Romandie sogar noch früher.

Lätsch: Langjährige Familienbegleitende wie Andreas Rhyner haben aus ihren Erfahrungen eine Antwort auf die Frage nach Wirksamkeit, aber die Wissenschaft noch nicht.

«Das Ziel muss sein, alles für Kind und Familie zu verbessern – mit welchen Mitteln auch immer.»

Andreas Rhyner, Sozialpädagoge, Gründer des Netzwerks VORSA und Dozent ZHAW Soziale Arbeit

Wie misst man die Wirksamkeit?
Lätsch: Nicht nur an einem Indikator, sondern an mehreren zugleich. Und vor allem: multiperspektivisch. Wir interessieren uns für das Erleben und die Sicht von Kindern, Eltern und Fachpersonen. Und wir führen unsere Studie in einem Verbund mit anderen Forschenden durch, können uns den Fragen deshalb mit unterschiedlichen Methoden nähern.

Was bringen internationale Vergleiche?
Lätsch: Sie sind eine wichtige Quelle. Es ist aber immer zu prüfen, wie plausibel die Erkenntnisse für die Verhältnisse in der Schweiz sind. International oft untersucht wurde zum Beispiel, ob ähnliche Interventionen zu mehr oder weniger Fremdplatzierungen führen. Laut einer Metaanalyse führen sie zu häufigeren Fremdplatzierungen.

Weshalb?
Lätsch: Eine Erklärung ist, dass die Familiencoaches vermehrt gravierende Gefährdungen erkennen, die sonst niemand bemerkt hätte. Aber dazu muss man die Studien genauer anschauen, zum Beispiel bei welcher Phase der Kindeswohlgefährdung eine sozialpädagogische Familienbegleitung eingesetzt wird. Wird sie zu spät eingesetzt, besteht ihre Funktion möglicherweise nur darin, die Unausweichlichkeit einer Platzierung festzustellen.

Rhyner: Ich stelle immer wieder fest, dass unerfahrene Sozialarbeitende bei schwierigen Problemlagen sehr schnell Gefährdungsmeldungen machen. Wir von VORSA haben über viele Jahre mit den zuweisenden Stellen austariert, was als Kindswohlgefährdung gilt. Wir stufen ab zwischen Gefährdung und Verletzung. Bei Gefährdung arbeiten wir noch in den Familien, bei Verletzung hingegen ist eine Fremdplatzierung unumgänglich.

Endet dann der Auftrag der sozialpädagogische Familienbegleitung?
Rhyner: Oft ja. Unter gewissen Bedingungen empfehle ich aber sehr, die Begleitung dann weiterzuführen für den Fall, dass es «Lämpen» gibt – und die sind nicht selten. Coaches können eine Vermittlungsstelle zwischen Eltern, Kind und Heim einnehmen. Es muss auch jemand da sein, wenn ein Heim ein Kind nur vorübergehend aufnehmen kann oder will. Das heisst, sozialpädagogische Familienbegleitung kann nicht nur präventiv, sondern auch vor, während und/oder nach einer Platzierung stattfinden.

Ist sozialpädagogische Familienbegleitung die letzte Lösung, bevor ein Kind fremdplatziert werden muss?
Rhyner: Früher hatte ich den Ehrgeiz, dass alle ohne Heim auskommen. Aber dann gab es Fälle, bei denen der Heimaufenthalt so positiv verlief, dass ich verstand: Im Bedarfsfall braucht es das Heim. Wenn der Prozess der sozialpädagogische Familienbegleitung wirksam war, erhöhte dies die Erfolgschancen für die Heimplatzierung. Das Ziel muss immer sein, alles für Kind und Familie zu verbessern – mit welchen Mitteln auch immer. Sozialpädagogische Familienbegleitung und Fremdplatzierung sind keine Konkurrenz, sondern eine Behandlungskette, die auf alle Seiten immer wieder durchlässig ist.

Lätsch: Ich teile diese Ansicht. Einfach zu messen, ob sozialpädagogische Familienbegleitung zu mehr oder zu weniger Fremdplatzierungen führt, halte ich für sinnlos und unseriös. Oberstes Ziel im Kindesschutz sind langfristig tragbare Lösungen für das Kindswohl. Wenn die sozialpädagogische Familienbegleitung dazu beiträgt, ist sie wirksam, unabhängig davon, zu welcher Lösung sie beiträgt. Das kann auch eine Platzierung sein. Das alles wissenschaftlich abzubilden, ist anspruchsvoll. Nicht zuletzt deshalb, weil man dazu die langfristigen Entwicklungen verfolgen muss. Aber möglich.

Wie lassen sich Erkenntnisse aus solchen Studien in die Praxis zurückspielen?
Lätsch: Wir brauchen Forschende, die auf die Praxis ungemein neugierig sind – und umgekehrt. Deshalb ist es erfreulich, dass der SPF-­Fachverband eine massgebliche Rolle spielte im Anregen des Forschungsverbundes, von dem wir von der ZHAW nun Teil sind.

Brink: Weiterbildungen sind ideale Gelegenheiten, um Brücken zwischen Forschung und Praxis zu schlagen und auch aufzuzeigen, wo noch mehr Forschung benötigt wird.

Rhyner: Das wünsche ich mir, dass bei der Studie auch ein Veränderungsbedarf herausgearbeitet wird. Natürlich erhoffe ich mir Impulse, aber auch Kritik würde mich sehr interessieren. Sozialpädagogische Familienbegleitung ist in der Schweiz sozusagen im Wildwuchs entstanden. Da ist es tatsächlich nicht immer einfach zu erkennen, ob man vom selben spricht und dieselben Ziele verfolgt. Eine wissenschaftliche Untersuchung könnte uns deutlich weiterbringen.

Sozialpädagogische Familienbegleitung: Weiterbildung und Forschung

Die ZHAW Soziale Arbeit bietet mit dem CAS Sozialpädagogische Familienbegleitung eine Weiterbildung für praktizierende und angehende sozialpädagogische Familienbegleitende sowie Fachpersonen aus verwandten sozialwissenschaftlichen Disziplinen an. Start: März 2021. Leitung: Ida Ofelia Brink und Tim Tausendfreund.

In der SNF-Studie «Wirksamkeit sozialpädagogischer Familienbegleitung im Kontext des Kindesschutzes» untersucht, welche Belastungen und Ressourcen die Familien zu Beginn der Familienbegleitungen aufweisen, wie sich diese Belastungen und Ressourcen über die Dauer der Intervention entwickeln und welche Merkmale der Familien, des sozialen Umfelds, der Fachpersonen und des Unterstützungsprozesses die Wirkungen beeinflussen.