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Soziale Arbeit

Hilfe für Geflüchtete: Von der Windel bis zur Wohnung

Wer ist eigentlich zuständig dafür, dass die Menschen aus der Ukraine versorgt werden mit Material und Geld bis hin zu ihrer Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt? Mitarbeitende der Fachorganisation AOZ berichten vom Ausnahmezustand.

200 Schlafplätze übers Wochenende bereitgestellt: Im ehemaligen Personalhaus des Stadtspitals Triemli betreibt die AOZ eine Kurzzeitunterbringung. (Zürich, 25. Mai 2022)

Von Regula Freuler (Text) und Bernard van Dierendonck (Fotos)

Newsmeldungen, Statistiken und viele, sehr viele anekdotische Erzählungen: Informationen wie diese prägen das Bild, das wir uns von der Lage der Ukraine-Geflüchteten in der Schweiz gerade machen. Zuerst überwogen die bewegenden Hilfsaktionen. Doch je länger der Krieg dauert, je mehr Menschen hier ankommen, desto kritischer wird nach ihrer sozialen und beruflichen Integration gefragt. Wie soll es weitergehen mit der Unterbringung, wenn die Solidaritätswelle abflacht und die Asylquote möglicherweise erneut erhöht wird? Und wie sieht das nun aus mit der Jobvermittlung, die dank Status S so viel einfacher sein soll als bei anderen Geflüchteten?

«Es braucht Geduld», sagt Stefan Roschi, Direktor der Fachorganisation AOZ, die im Kanton Zürich in rund 40 Gemeinden mit der Integration der Ukraine-Geflüchteten beauftragt ist. «Fast jede Woche tauchen neue Fragen auf, vor allem im Zusammenhang mit dem Status S. Wir müssen unsere Prozesse neu definieren und in den Betrieb implementieren, das geht nicht auf Knopfdruck.» Roschi macht eine kurze Pause und schüttelt dann den Kopf: «Das müssen wir in der Schweiz lernen: Wir sind nicht perfekt, auch wenn wir das gerne glauben. Wir denken, wir können es besser als andere Länder. Aber von einer solchen Überlegenheitshaltung müssen wir Abstand nehmen.»

«Ein Schweizer charterte ein Flugzeug für Geflüchtete, andere fuhren mit Bussen in die Ukraine. Die riefen dann bei uns an und erwarteten, dass wir auf den nächsten Tag 70 Krebskranke unterbringen und deren medizinische Versorgung gewährleisten.»

Stefan Roschi, Direktor AOZ

Es ist ein Freitagnachmittag Mitte Mai, doch bei Stefan Roschi herrscht keine Wochenendstimmung. Krieg nimmt keine Rücksicht auf Bürozeiten oder gut eingespielte Organisationsabläufe. Als Anfang März die ersten Geflüchteten in die Schweiz kamen, musste die AOZ umgehend ihre Leistungen ausbauen. Innerhalb eines Tages richtete man eine Hotline ein, die Website wurde übers Wochenende angepasst.

Statt für wie sonst üblich rund 60 Geflüchtete pro Monat sollte man nun plötzlich an 600 Personen Sozialhilfe ausbezahlen. Zu Beginn, also bis im April, lief das allerdings auf Überbrückungszahlungen hinaus, weil so schnell gar nicht so viele Geflüchtete ordentlich erfasst werden konnten. Es fehlten schlichtweg die administrativen Ressourcen dazu. 

80 Produkte im Katalog

Doch nicht nur zur Bewältigung der Bürokratie, sondern auch für viele andere Bereiche musste die AOZ schnellstmöglich Personal rekrutieren. Anfangs sei man manchmal mit spektakulären Aktionen konfrontiert worden, erzählt Roschi: «Ein Schweizer charterte ein Flugzeug für Geflüchtete, andere fuhren mit Bussen in die Ukraine. Die riefen dann bei uns an und erwarteten, dass wir auf den nächsten Tag 70 Krebskranke unterbringen und deren medizinische Versorgung gewährleisten.»

Das waren zwar Ausnahmen. Aber es gab auch andere, wiederkehrende Herausforderungen. Zum Beispiel die Organisation von Artikeln des täglichen Bedarfs, und dies in grossen Mengen: Hygieneartikel, Windeln, Haustierfutter und vieles mehr. Mittlerweile führt die AOZ einen Produktekatalog mit rund 80 Artikeln. Um dem allem nachzukommen, wurden in weniger als zwei Monaten zusätzlich fast 200 neue Stellen besetzt. Das bedeutete einen Stellenzuwachs von mehr als 15 Prozent.

Zudem mussten schnell Übernachtungsplätze geschaffen werden, rund 1400 waren es bis Ende April. «Im Grunde hat die Stadt Zürich zu Beginn für das ganze Land Plätze bereitgestellt. Denn die meisten Menschen, die aus der Ukraine in die Schweiz flohen, kamen hier an, da sie in einer grossen Stadt am ehesten Hilfe erwarteten», sagt Stefan Roschi, der vor drei Jahrzehnten selbst in der Ukraine arbeitete und seither persönliche Kontakte ins Land pflegt.

Zuerst hat die AOZ gemeinsam mit dem Zivilschutz das ehemalige Personalhaus des Triemli-Spitals mit 200 Plätzen eingerichtet – auch das im Sondereinsatz übers Wochenende. «Das hiess: Betten, Trennwände, Catering organisieren», zählt Roschi auf. Weitere Kurzzeitunterkünfte kamen dazu, unter anderem in der Saalsporthalle, in der Zivilschutzanlage Turnerstrasse sowie im Alterszentrum Buttenau in Adliswil. Die deutliche Mehrheit der zurzeit rund 2000 ukrainischen Geflüchteten, die in der Stadt Zürich leben und nicht anderen Gemeinden oder Kantonen zugewiesen wurden, fanden allerdings selbständig eine Bleibe, zumindest vorübergehend. Vieles laufe über persönliche Kontakte und Social Media, sagt Roschi.  

Eigentlich mietet die AOZ auch viele Wohnungen und Häuser an. Doch vor einem Wechsel zögern offenbar so einige Geflüchtete. Warum das so ist, weiss Roschi nicht. Ob es daran liegt, dass sie zuerst in eine Kurzzeitunterkunft ziehen müssten? Und warum macht man überhaupt diesen bürokratischen Umweg und lässt die Familien nicht direkt in eine eigene Wohnung umziehen? «Das hat nichts mit Bürokratie zu tun», sagt der AOZ-Direktor, «sondern es geht darum, dass eine längerfristige Lösung gesucht werden muss. Wohin passen diese Familien? Sind schulpflichtige Kinder dabei? Diese Abklärungen brauchen Zeit, deshalb der Weg über eine Kurzzeitunterbringung wie Triemli.» Zudem gehe es auch um Gleichbehandlung aller Geflüchteten. 

Zwanzig Mal mehr Freiwillige

Nachhaltige Lösungen suchen – dieses Thema kommt immer wieder auf, wenn man mit AOZ-Mitarbeitenden spricht. «Wir sind von der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung enorm beeindruckt. Aber wenn das zivilgesellschaftliche Engagement nicht langfristig überlegt ist, kann es zu Enttäuschungen kommen», sagt Maya Sonderegger. Sie leitet die AOZ-Fachstelle Freiwilligenarbeit, bei der die Angebote für Einsätze entgegengenommen und vermittelt werden.

«Für uns sind alle Geflüchteten gleich wichtig, unabhängig von ihrer Herkunft.»

Maya Sonderegger, Leiterin Fachstelle Freiwilligenarbeit

Normalerweise melden sich rund 30 Personen für Freiwilligenarbeit pro Monat. Diese werden geprüft und in ihre Aufgaben eingeführt. Sie verpflichten sich für mindestens sechs Monate, zum Beispiel für das Tandemprogramm. Das änderte sich im März schlagartig: 600 Schweizerinnen und Schweizer boten bei der AOZ ihre Hilfe an, also zwanzigmal mehr als sonst. Im April waren es mit 360 immerhin noch über zehnmal mehr.

Über 2000 Freiwilligeneinsätze hat die AOZ seit Beginn des Ukraine-Krieges vermittelt. Dazu musste ein neues Softwaretool implementiert werden, das eine datenschutzsichere Schichtplanung ermöglicht. Die meisten dieser Einsätze haben allerdings weniger mit der Integration der Geflüchteten zu tun, wie sie sonst bei der AOZ im Fokus steht. Jetzt hat man vor allem Strukturen ergänzt, etwa in Form von Hilfsjobs wie Dolmetschen, Essenausgabe, Fahrdienste und Einrichten von Unterkünften. 

Ebenfalls eine neue Erfahrung für die AOZ-Mitarbeitenden ist die sogenannte selektive Solidarität. In Zahlen ausgedrückt heisst das: Von 600 Freiwilligen-Anmeldungen im März waren 350 explizit nur für Einsätze mit Menschen aus der Ukraine. «Es ist manchmal schon schwierig, damit umzugehen», sagt Maya Sonderegger und betont: «Für uns sind alle Geflüchteten gleich wichtig, unabhängig von ihrer Herkunft.» 

Keine Bevorzugung

Ein anderer grosser Tätigkeitsbereich der AOZ ist die Sozialhilfe. Jeder Fall muss individuell beurteilt werden. Das benötigt Zeit und Ressourcen. Immerhin können die Fälle seit Mitte Mai nun wieder ordentlich für die Auszahlung der Sozialhilfe und für die Abklärungen zur Arbeitsweltintegration erfasst werden.  

Dennoch hat die AOZ weiterhin zahlreiche Stellen ausgeschrieben und sucht intensiv nach qualifizierten Sozialarbeitenden, um die bereits seit längerem laufenden Integrationsprozesse mit den nicht-ukrainischen Geflüchteten nicht zu vernachlässigen. Schliesslich haben alle das gleiche Anrecht auf Integrationsprogramme und -angebote, auch wenn das derzeit manchmal zu vergessen gehen scheint. «Egal, ob wir nun Zirkusbillette oder Jobs zum Vermitteln angeboten bekommen: In der Regel nehmen wir nur an, was wir allen zugutekommen lassen können», sagt Natalia Briner von der Abteilung Kommunikation und gesellschaftliche Diversität, «es gibt keine Bevorzugung.»

«Kaum je lernt man so vieles in so kurzer Zeit wie in einer Krisensituation.»

Natalia Briner, Mitarbeiterin Kommunikation und gesellschaftliche Diversität

Briner leitet die Ukraine-Hotline. Durch die Anfragen kann sie die sich verändernde Stimmung in der Schweizer Bevölkerung ziemlich gut einschätzen. «Am Anfang wollten alle einfach nur helfen und sich einsetzen, dann kamen die Unterbringungsangebote, und allmählich treten wir in eine dritte Phase ein, in der die Leute wissen möchten, warum das mit der beruflichen Integration nicht zügiger voran geht», erklärt Briner.  

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum Beispiel grundsätzliche Entscheidungen wie die Zumutbarkeit: Die Deutschkurse laufen zwar nun an und sind sehr begehrt, aber bei der Jobvermittlung passen Angebote und Nachfrage nicht unbedingt immer zusammen. Konkret heisst das, in der Gastronomie gibt es zwar Stellen, aber soll eine Anwältin nun kellnern gehen? Es geht aber auch um individuelle Aspekte wie die Kinderbetreuung oder die detaillierte Abklärung der Qualifikation. «Im Einzelfall ist es eben viel komplexer und aufwendiger, als man sich das vorstellt», erklärt Briner.   

Psychische Gesundheit im Blick

Ein weiterer Grund ist die Strategie der AOZ, abgestuft nach Alterskategorien vorzugehen. Zuerst machte man Assessments mit den jüngeren Geflüchteten, in einem zweiten Schritt fokussiert die Fachorganisation nun auf die bis 55-Jährigen. Sprachkurse wiederum sind von Anfang an für alle gleichermassen offen, denn Sprachkenntnisse seien in vielerlei Hinsicht hilfreich, erklärt Natalia Briner: «Es geht auch um die psychische Gesundheit und das Gefühl, nicht komplett abhängig zu sein.»  

Wie sieht es denn eigentlich mit der Gesundheit der AOZ-Mitarbeitenden aus, die plötzlich mit einem Vielfachen an Klientinnen und Klienten zu tun haben wie sonst? Die Belastung war und ist laut Natalia Briner immer noch hoch. Aber man versucht, gewisse Grenzen zu setzen, vor allem was die Arbeitszeiten angehe. «Wir sind zwar ziemlich geschafft», räumt Briner ein. Dennoch würde sie – ohne die Ursache in irgendeiner Weise gutreden zu wollen – auf die Erfahrung nicht verzichten wollen: «Kaum je lernt man so vieles in so kurzer Zeit wie in einer Krisensituation.»