«Im Zentrum steht Empowerment» – Wie ÜBER18 junge Erwachsene in schwierigen Lebenslagen unterstützt
Schulden, keine Wohnung und Stress in der Lehre, aber keine Hilfe von den Eltern? Das überfordert viele junge Menschen. Bei einem Zürcher Pilotprojekt werden sie unbürokratisch beraten. Dahinter steht eine ZHAW-Absolventin.
von Regula Freuler
Es ist kalt an diesem November-Tag, und es regnet in Strömen. Zum Glück sind es von der Busstation bis zum Verwaltungsgebäude nur ein paar Schritte. Hier, nicht weit vom Bahnhof Winterthur entfernt, sind mehrere Abteilungen des Amts für Jugend und Berufsberatung (AJB) sowie das Familienzentrum untergebracht – und ausserdem eine Anlaufstelle, die so neu ist, dass sie kein eigenes Klingelschild hat. Sie heisst ÜBER18 und richtet sich an 18- bis 25-Jährige aus der Region Winterthur und Andelfingen.
Dazu gehören einerseits Care Leaver, also junge Erwachsene, die im Heim oder einer Pflegefamilie platziert waren und ab dem 18. Geburtstag auf sich allein gestellt sind. Ebenso angesprochen sind junge Menschen, die bereits von anderen kindesschutzrechtlichen Massnahmen wie etwa einer sozialpädagogischen Familienbegleitung betroffen waren. Andererseits – und das unterscheidet ÜBER18 von gesetzlich verankerten Angeboten – dürfen sich auch alle anderen jungen Erwachsenen mit psychosozialen Problemen melden.
ÜBER18 befindet sich in der Pilotphase. Finanziert wird das Angebot als Entwicklungsprojekt durch das AJB, die Idee dazu stammt von Pia Labruyère. Die Sozialarbeiterin wartet im regengeschützten Eingangsbereich, über ihrer Maske blicken einem zwei lachende Augen entgegen. Wir gehen durch einen Korridor im Erdgeschoss bis zu einem kleinen Raum, der zugleich als Büro und Sprechzimmer dient. Kunstbilder und Pflanzen verleihen ihm eine dezente, persönliche Atmosphäre.
Ohne Machtgefälle
Seit dem Start des Pilotprojekts im Juli berät Labruyère hier an drei Tagen pro Woche junge Erwachsene zu Fragen wie Budget, Wohnungssuche oder Ausbildung. Die Erstgespräche finden stets im Büro oder online statt, aber danach darf auch ein Café oder eine Parkbank als Treffpunkt gewünscht werden: Bei ÜBER18 gibt es kaum formale Vorgaben, auch nicht zu Dauer und Häufigkeit des Beratungsmandats.
«Im Zentrum steht Empowerment», betont die 31-jährige, «sie entscheiden, zu welchen Bereichen ich sie berate, wie häufig und über welchen Zeitraum hinweg.» Es gibt kein Machtgefälle. Die jungen Menschen müssen keine Nachweise liefern, um eine Beratung zu erhalten, die Sozialberaterin erhält keine Akten, und es hat keine Konsequenzen, wenn jemand einmal zu einem Termin nicht erscheint – was allerdings schon hin und wieder vorkomme, sagt Labruyère. Darum schickt sie manchmal vorab eine kurze Erinnerung.
Volljährig – wie weiter?
Zu den Leistungen von ÜBER18 gehört unter anderem ein Needs Assessment. Dabei werden die Bedürfnisse abgeklärt. «In der Regel wissen die jungen Menschen, was sie am dringendsten brauchen. Meistens ist das ein Ort zum Wohnen. Aber häufig kommen dabei noch weitere Anliegen oder Probleme zum Vorschein, die ebenfalls gelöst oder geklärt werden sollten», sagt die ZHAW-Absolventin, die ihre Masterthesis zu Beistandschaften im Kindesschutz geschrieben hat.
Mit dem 18. Geburtstag endet die staatliche Jugendhilfe. In den meisten Kantonen sind die jungen Erwachsenen dann auf sich gestellt. Im Kanton Zürich erlaubt das neue Kinder- und Jugendheimgesetz, das nächstes Jahr in Kraft treten wird, eine Weiterführung von Kindesschutzmassnahmen wie beispielsweise das Wohnen in einer Pflegefamilie oder das Jugendcoaching im Rahmen einer Sozialpädagogischen Einzelbegleitung über die Volljährigkeit hinaus, maximal bis zum Ende des 25. Altersjahrs. Bedingung dafür ist, dass die Weiterführung nahtlos erfolgt und ein Bedarf plausibel gemacht werden kann.
Eine Erwachsenenbeistandschaft erachten die wenigsten als wünschenswert, und sie wird von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) denn auch nur bei Vorliegen eines ausgewiesenen «Schwächezustandes» gesprochen. «Viele junge Erwachsenen brauchen gar keine so intensive Begleitung mehr, sondern einfach eine fachkompetente Ansprechperson für die verschiedenen Lebensbereiche», sagt die Sozialarbeiterin.
Wohnung vermittelt
Das ist auch so bei Trinity, die sich jetzt zu uns gesellt. Die 19-Jährige heisst eigentlich anders. Als Pseudonym wünschte sie sich den Namen der Hackerin aus dem Film «The Matrix». Trinity meldete sich bei ÜBER18, weil sie eine Bleibe suchte. Ihre Mutter, bei der sie bisher wohnte, zog weg. Die junge Frau möchte in Winterthur bleiben, wo sie aufwuchs und ihren Freundeskreis hat. Aber sie verlor ihre Lehrstelle und muss nun schauen, wie sie ihren Lebensunterhalt allein finanzieren kann.
Mit dem Lohn vom Aushilfsjob, den sie gefunden hat, kann sich Trinity unmöglich auf dem normalen Wohnungsmarkt etwas leisten. Dank der Vermittlung durch Pia Labruyère bekommt sie nun ein WG-Zimmer im Jugendwohnraum des Vereins Dachlade. Dort hat man eine vorübergehende Ausnahme gemacht, denn das Angebot richtet sich eigentlich nur an junge Erwachsene in Ausbildung.
Listen bringen Ordnung
Um das Wohnrecht nicht wieder zu verlieren, geht es nun an die Lehrstellensuche. Es sei nicht so, dass sie keine Lust dazu habe. «Aber ich brauche jemanden, der mich ab und zu anstupst», sagt Trinity. Sie lacht entschuldigend und macht eine wilde Handbewegung, um zu illustrieren, wie ihre Aufmerksamkeit rasch von einem zum nächsten springt. Auch hier: Pia Labruyère stupst nur, weil Trinity das wünscht. Nächste Aufgabe: Wie kann die junge Frau lernen, sich eigenständig besser zu organisieren? Mit To-do-Listen. «Diese Listen helfen mir enorm», sagt sie, «und es gibt mir immer ein gutes Gefühl, wenn ich etwas erledigt habe und durchstreichen kann.»
Auch bei Saskia, einer anderen ÜBER18-Klientin, gab es Schwierigkeiten mit der Wohnsituation. Wir sprechen einige Stunden später am Telefon. Die 19-Jährige ist im zweiten Lehrjahr als Assistentin Gesundheit und Soziales. Sie wohnt bei Verwandten. Das Zusammenleben ist nicht harmonisch. Doch ihre Mutter wohnt zu weit weg, als dass Saskia bei ihr einziehen und zur Arbeit pendeln könnte. Sie benötigt also ein Stipendium. Den Antrag schrieb sie mit Unterstützung von Pia Labruyère.
Es geht um Chancengerechtigkeit
Formulare ausfüllen, Budgetpläne machen, die Steuererklärungen der Eltern anfordern oder die eigene zum ersten Mal ausfüllen, einen Umzug einfädeln, zur Berufsberatung mitgehen: Das alles gehört zur sogenannten persönlichen Hilfe. Natürlich gibt es verschiedene Angebote für junge Erwachsene, diese zu erhalten. «Aber in der Praxis wird sie oft von der wirtschaftlichen Hilfe abhängig gemacht, oder es ist für die jungen Menschen zu schwierig, sich in den verschiedenen Unterstützungssystemen zu orientieren», weiss Pia Labruyère.
ÜBER18 versteht sich daher vor allem als Schnittstelle zwischen spezifischen Fachstellen und öffentlichen Diensten einerseits und den jungen Männern und Frauen andererseits. Pia Labruyère hofft, dass eine derartige Anlaufstelle zum Regelangebot in allen Bezirken des Amtes für Jugend und Berufsberatung wird. «Wenn wir es ernst meinen mit der Chancengerechtigkeit», betont die Sozialarbeiterin, «dann müssen wir den jungen Erwachsenen eine Unterstützung anbieten, die unbürokratisch funktioniert.»
Die Finanzierung des Projekts durch das AJB läuft noch bis im Februar 2023. Bis dann muss geklärt werden, ob und wie das Angebot weitergeführt werden kann. Für dessen Relevanz und Wirksamkeit, sagt die Sozialarbeiterin, sprechen die bereits zahlreichen positiven Rückmeldung ihrer Klientinnen und Klienten.
ÜBER18 – Beratung für junge Erwachsene in schwierigen Lebenslagen
Das Angebot der Beratungsstelle ÜBER18 ist kostenlos und freiwillig. Es richtet sich an junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren aus der Region Winterthur und Andelfingen. ÜBER18 ist ein zweijähriges Pilotprojekt, das vom Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich finanziert wird.
Junge Erwachsene, die im Heim oder bei Pflegeeltern aufwuchsen, finden Informationen zu weiteren Angeboten beim Kompetenzzentrum Leaving Care.