Eingabe löschen

Kopfbereich

Hauptnavigation

Soziale Arbeit

Experte für Strafvollzug: «Im Zwangskontext muss man deliktrelevant und systemisch arbeiten»

Um im Strafvollzug ein professionelles Case Management zu garantieren, ist ein interdisziplinärer Austausch gefordert, sagt ZHAW-Dozent Roger Hofer.

Für ein positives soziales Verhalten braucht ein Mensch soziale Anerkennung, Selbstwert und das Gefühl von Selbstwirksamkeit: Häftling in der Strafanstalt Pöschwies. (Bild: Thomas Egli)

Interview: Regula Freuler

Sie waren viele Jahre im Strafvollzug tätig. Welches war für Sie anfangs die grösste Herausforderung?

Roger Hofer: Ganz zentral war die Frage, wie ich mich abgrenzen kann. Man hat es im Zwangskontext mit extremen Geschichten und Schicksalen zu tun. Da gibt es Menschen, die moralisch verwerfliche Taten begangen haben, aber auch solche, die eine schlimme Opfergeschichte hinter sich haben und daraus zu Tätern wurden. Solche Menschen täglich zu erleben, das macht etwas mit einem. Um professionell zu bleiben, muss man sich unbedingt eine gesunde Work-Life-Balance bewahren.  

«Klienten und Klientinnen im Vollzug lügen manchmal. Und Lügen können einen wütend machen. Doch als Sozialarbeiter muss ich mir sagen: Wenn ein Klient mich anlügt, ist das ein Muster. Ich muss ihn mit seinen Lügen konfrontieren, aber nicht mit meiner Wut.»

Roger Hofer, ZHAW-Dozent

Vor einem sitzt ein uneinsichtiger Täter oder eine Täterin: Wie geht man damit um?

Das verlangt nach einem hohen Mass an Professionalität. Vor allem muss man seine eigenen Reaktionen gut beobachten. Bestimmte Verhaltensweisen des Gegenübers können einen wütend machen. Der eine enerviert sich über protziges Auftreten oder Lügen, die andere kann das Fehlen von Verantwortungsübernahme nicht ausstehen. Das alles sind Trigger. Diese muss ich bei mir ausfindig machen. Man muss als Sozialarbeitender seine blinden Flecken erkennen und damit umgehen können.

Was triggert Sie?

Lange Zeit machte es mich wütend, wenn sich ein Täter oder eine Täterin als das eigentliche Opfer darstellte und damit begründete, warum er nichts ändern könne. Meine Reaktion hat mit meiner eigenen Sozialisation zu tun. Die Faustregel lautet: Ärgert mich etwas im Verhalten eines Klienten oder einer Klientin massiv, hat das mehr mit mir zu tun als mit ihm. Tröstlich ist, dass es einem stetig besser gelingt, sich selbst zu erkennen. In meinem Unterricht baue ich viele Übungen dazu ein.  

Was sind weitere klassische Trigger?

Klienten und Klientinnen im Vollzug lügen manchmal. Und Lügen können einen wütend machen. Doch als Sozialarbeiter muss ich mir sagen: Wenn ein Klient mich anlügt, ist das ein Muster. Ich muss ihn mit seinen Lügen konfrontieren, aber nicht mit meiner Wut.

Gibt es Modelle, um das destruktive Verhalten des Klienten zu verstehen?

Besonders einleuchtend finde ich das Konzept der Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch. Der Sozialpädagoge geht davon aus, dass Menschen sich grundsätzlich handlungsfähig fühlen müssen, um sich sozial positiv zu verhalten. Um dies zu erreichen, müssen drei Faktoren erfüllt sein: soziale Anerkennung, Selbstwert und Selbstwirksamkeit. Wenn einer oder mehrere dieser Faktoren am Bröckeln sind oder nicht erfüllt werden, gerät der Mensch in ein psychisches Ungleichgewicht. Das kann zu dissozialem und delinquentem Verhalten führen. 

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Sozialer Arbeit und anderen Fachdisziplinen?

Hier sind ein professionelles Case Management und ein kontinuierlicher interdisziplinärer Austausch gefordert. Die Soziale Arbeit ist prädestiniert dafür, sich mit anderen Fachrichtungen zu vernetzen beziehungsweise diese untereinander zu vernetzen. Die Sozialarbeitenden müssten sich dieser Fähigkeit stärker bewusst sein und die Vernetzung fördern und gegebenenfalls einfordern.

Wird das zu selten gemacht?

Leider ja. Um im Vollzug auf Augenhöhe mit anderen Fachdisziplinen reden zu können, sollte man über forensisches Fachwissen verfügen und sich deren Terminologie aneignen, und zwar nach dem Ansatz des Risikoorientierten Sanktionenvollzugs, kurz ROS. Dazu gehören nicht nur Begrifflichkeiten aus der Sozialarbeit, sondern auch aus der forensischen Psychiatrie wie zum Beispiel Impulskontrollstörungen oder Dominanzfokus.

Was gehört zu einem guten Case Management im Zwangskontext?

Dass man die Abläufe sowohl systematisch wie auch systemisch ausrichtet. Systemisch bedeutet, dass man als Fallverantwortliche oder Fallverantwortlicher sämtliche Fachrichtungen einbezieht, die mit dem Klienten oder der Klientin arbeiten. Dazu zählen nicht nur die Therapeutin und ich als Sozialarbeiter, sondern auch der Werkmeister, die Betreuerin und die Aufsicht. Und von extern kommen Familie, Sozialamt, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und so weiter dazu.

Das klingt zeitintensiv. Sind überhaupt die Ressourcen dafür da?

Diesen Einwand höre ich oft. Nehmen wir den Werkmeister. Er verbringt acht Stunden am Tag mit dem Klienten beim Putzen oder beim Rüebli ernten. Es gehört zu seinem Auftrag, möglichst realitätsnah mit ihm zu arbeiten, um ihn für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Aber im Vollzug müssen auch soziale Kompetenzen entwickelt und an der Rückfallprävention gearbeitet werden. Gut zu putzen oder Rüebli zu ernten ist je nach Delikt völlig irrelevant.

Wie meinen Sie das?

Ich könnte zum Beispiel bei gewissen Tätergruppen von Anfang an sagen, dass sie ihre Arbeit tipptopp verrichten und immer pünktlich sein werden. Aber im Vollzug müssen die beteiligten Fachleute die deliktrelevante Problematik – zum Beispiel das Manipulative – in den Fokus nehmen, und zwar im Austausch mit der Sozialarbeiterin oder dem Sozialarbeiter.  

Welche Schwerpunkte setzen Sie als Kursleiter der Weiterbildung zu Case Management im Zwangskontext?

Im Zwangskontext muss man deliktrelevant und systemisch arbeiten. Das lernen die Teilnehmenden im CAS. Ein weiterer Punkt ist das Setzen von Prioritäten. Unsere Klienten haben unzählige Baustellen in ihrem Leben: Schulden, Beziehungsprobleme, aggressives Verhalten, keinen Job und so weiter. Sozialarbeitende haben oftmals die Neigung, alle Baustellen zugleich bearbeiten zu wollen. Dabei könnten die risikorelevanten Problembereiche zu kurz kommen.

Mit welchen Klienten arbeiten Sie persönlich am liebsten?

Ich fand Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen immer faszinierend. Sie können sehr anstrengend sein, aber salopp gesagt: Mit ihnen ist immer Action.