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Soziale Arbeit

Jugendarbeiterin: «Es reicht nicht mehr, das Alphatier einer Gruppe zu finden»

Warum steigt die Jugendkriminalität? Welche Rolle spielen Männlichkeitsnormen? Und gibt es in der Schweiz Gangs? Eine Gewaltberaterin, ein Kriminologe und eine Jugendarbeiterin geben Auskunft.

In der Schweiz gibt es zunehmend gewaltbereite Jugendbanden. Diese organisieren sich unter anderem durch Aufrufe in sozialen Netzwerken. (Bild: iStock)

Interview: Regula Freuler

Seit 2015 ist die Zahl der Straftaten von Jugendlichen um rund ein Drittel gestiegen. Vor allem Gewaltdelikte werden deutlich häufiger registriert. Patrik Manzoni, wie lässt sich das wissenschaftlich erklären?
Patrick Manzoni: Aus der Forschung sind zahlreiche Risiko- oder Belastungsfaktoren bekannt, die zu delinquentem Verhalten führen können. Wenn man Faktoren aus Studien vor 2015 mit den Ergebnissen neuerer Studien vergleicht, findet man Erklärungsansätze. Und da sieht man zweierlei: Erstens gibt es nicht den einen Faktor, zweitens ist Jugenddelinquenz hierzulande kein Massenphänomen, sondern es gibt Gruppen von Jugendlichen, die hoch belastet sind und die mehr Straftaten begingen.  

Um welche Faktoren geht es?
Patrick Manzoni: Mit Mehrfachtäterschaft in Zusammenhang stehen unter anderem ein delinquenter Freundeskreis, Drogenkonsum, gewaltbefürwortende Einstellungen, geringe Selbstkontrolle, familiäre Umstände wie geringe elterliche Kontrolle und elterliche Gewalterfahrungen, der sozioökonomische Hintergrund oder Schulschwänzen. Eine 2021 durchgeführte Studie zu Jugenddelinquenz im Kanton Zürich zeigt, dass es eine kleine Gruppe von Jugendlichen gibt, die viel mehr Delikte begangen hat als bei der letzten Befragung im Jahr 2013 – und die mit zehn Faktoren und mehr sehr hoch belastet ist.  

«Jugenddelinquenz hierzulande kein Massenphänomen, sondern es gibt Gruppen von Jugendlichen, die hoch belastet sind und die mehr Straftaten begingen.»

Patrik Manzoni forscht am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention und unterrichtet Studierende der ZHAW Soziale Arbeit. 

Natalie Bühler, spiegelt sich das auch bei Ihnen in der Offenen Jugendarbeit wider?
Natalie Bühler: Unsere Jugendtreffs sind zwar nicht der Ort, wo die Gewalttaten normalerweise passieren oder die von kriminellen Jugendbanden frequentiert werden. Dennoch stellen wir ganz klar zwei Dinge fest: Gewalt hat als Gesprächsthema unter Jugendlichen deutlich zugenommen, und die Situation vieler Jugendlicher ist in den vergangenen Jahren prekärer geworden.  

Was meinen Sie mit «prekär»?
Natalie Bühler: Das heisst: Die familiären Verhältnisse sind schwierig, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist involviert, es gibt wechselnde Heimsituationen, oder Jugendliche werden von der Schule verwiesen, ohne dass eine neue Struktur da ist, die sie auffängt. Es gibt Jugendliche, die zu Hause nicht regelmässig zu essen bekommen. Manche kommen so hungrig zu uns, dass sie sich sogar auf Sellerie stürzen – und das will etwas heissen. Mittlerweile hat darum über die Ferien immer mindestens eine Einrichtung der OJA Offene Jugendarbeit Zürich geöffnet.  

«Bei uns gibt es Jugendliche, die einander Essen und Kleider bringen.»

Natalie Bühler ist Mitglied der Geschäftsleitung des Vereins OJA Offene Jugendarbeit Zürich. 

Welchen Einfluss hatte die Corona-Pandemie auf die Zunahme der Gewalttaten?
Natalie Bühler: Ich sehe sie nicht als Ursache, aber als Katalysator. Dazu kommt der Lehrstellenmangel in der Stadt Zürich, er drückt auf die Motivation in der Schule. Und natürlich machen sich der Lehrpersonenmangel und die daraus folgenden häufigen Wechsel der Lehrpersonen bemerkbar. Schüler:innen, die Probleme in der Schule haben, werden nicht mehr gleich gut abgeholt. Das hat seit Corona zugenommen.  

Beatrice Burgener, Sie arbeiten seit fast 15 Jahren als Konfliktberaterin für gewalttätige Jugendliche. Was hat sich verändert in dieser Zeit?
Beatrice Burgener: Am stärksten verändert hat sich der Substanzkonsum. Wobei nicht unbedingt die Häufigkeit des Konsumierens zugenommen hat, sondern oft werden härtere Drogen konsumiert. Harte Drogen gehören heute zum Leben vieler Jugendlicher dazu.  

Patrick Manzoni: Das bestätigen auch Studien: Cannabis ist bei allen Täter:innen stark verbreitet und die harten Drogen bei den sogenannten Intensivtäter:innen.  

Was sind Intensivtäter:innen?
Patrick Manzoni: Das sind Täter:innen, die – nach Definition von einigen Kantonen – innerhalb von sechs Monaten mindestens fünf Delikte ausgeübt haben, eines davon ein Gewaltdelikt.  

Beatrice Burgener: Was sich auch verändert hat: Ich stelle vermehrt kriminelle Jugendbanden fest. Lang lautete der Konsens, es gebe in der Schweiz keine Gangs. Das hätte ich früher bestätigt. Es waren eher lose Gruppen. Heute sage ich: Es gibt eindeutig feste Gruppierungen, die einander schützen und sich in Nullkommanichts via Chat zusammenrufen. Von Jugendlichen in meiner Beratung höre ich, dass auf einen solchen Aufruf dann nicht nur drei oder vier, sondern 50 bis 60 zusammenkommen können.  

«Harte Drogen gehören heute zum Leben vieler Jugendlicher dazu.»

Beatrice Burgener ist Konflikt- und Gewaltberaterin für straffällige Jugendliche sowie Inhaberin der connect bb GmbH.

Patrik Manzoni, Sie haben 2021 für eine Studie 11 000 Jugendliche auch zum Thema kriminelle Jugendbanden befragt. Mit welchem Ergebnis?
Patrick Manzoni: Wir fragten sie: Hast du eine Gruppe von Jugendlichen? Seid ihr mehr als drei Monate zusammen? Seid ihr häufiger im öffentlichen Raum unterwegs? Findet ihr es okay, wenn man verbotene Sachen macht? Macht ihr zusammen auch verbotene Sachen? Auf all diese Fragen antworteten rund 11 Prozent mit Ja. Das sind allerdings nicht signifikant mehr als bei der letzten Befragung von 2013.  

Beatrice Burgener: Ob die Zahlen, die mir von Jugendlichen genannt wurden, stimmen, sei dahingestellt. Aber deutlich wird, dass nicht zuletzt durch soziale Netzwerke neue Möglichkeiten entstehen, um sich innert Kürze zu organisieren. Natalie Bühler, haben Sie in der Offenen Jugendarbeit mit kriminellen Jugendbanden zu tun?  

Natalie Bühler: Sicher nicht in diesem Ausmass und auch nicht in den Treffs selbst. Aber auch wir stellen ein verändertes Gruppenverhalten fest. Durch die sozialen Medien entstehen Gruppen, die im tradierten Sinn eigentlich gar keine sind.  

Was heisst das?
Natalie Bühler: Manchmal treffen sich Jugendliche in unseren Einrichtungen, die einander fragen, wie sie heissen und woher sie kommen. Die Antwort kann Zürich lauten, aber auch Thurgau, Glarus ... das ist neu. Früher galt man als Peer, wenn man zusammen zur Schule oder in denselben Sportclub ging, in derselben Siedlung aufwuchs oder verwandt war.  

Was bedeutet das für die Jugendsozialarbeit?
Natalie Bühler: Ich bin überzeugt, dass wir erst am Anfang dieses Phänomens stehen. Wir müssen uns neue Methoden erarbeiten. Es reicht nicht mehr, das Alphatier einer Gruppe zu finden und mit ihm zu arbeiten. Es hat nicht mehr eine einzelne Person über längere Zeit starken Einfluss auf eine Gruppe, sondern ständig jemand anderes. Es wäre interessant, herauszufinden, ob dieses Phänomen der Bandenbildung Vorschub leistet.  

Beatrice Burgener: Ein Hinweis darauf ist das Anzeigeverhalten der Jugendlichen. Früher konnten sie ein Delikt melden, zum Beispiel wenn sie gemobbt wurden, und darauf vertrauen, dass es nachher aufhört. Diese Gewissheit empfinden Jugendliche heute nicht mehr. Was sie erleben, ist: Wenn man jemanden anzeigt, dann wird es nur noch schlimmer. Sie haben Angst vor Rache.  

Warum vertrauen Jugendliche den Instanzen wie etwa der Schulsozialarbeit nicht mehr?
Beatrice Burgener: Ich nehme ein gewisses Misstrauen gegenüber den Fachpersonen auch wahr. Heute wird stärker Druck von der Gruppe auf den oder die Einzelne ausgeübt. Wir als Berater:innen, aber auch Sozialarbeitende haben nicht die Möglichkeit, Jugendliche im Alltag genügend zu schützen, weil die Vernetzung durch die sozialen Medien so stark ist und weit über lokale oder regionale Kreise hinausgeht. Es ist für junge Menschen zunehmend schwierig, aus einer Bande auszusteigen. Ständig wird man wieder angeschrieben und hineingezogen. Es geht sogar so weit, dass Aussteiger:innen mit Falschanzeigen bedroht oder gerächt werden.  

Was können Fachpersonen dann überhaupt tun?
Beatrice Burgener: Es ist nun umso wichtiger, eine starke und vertrauenswürdige Arbeitsbeziehung zu den Jugendlichen aufzubauen. Sie in ihrer Lebenswelt zu verstehen, ernst zu nehmen und abzuholen. Erst dann ist es möglich, aufrichtig mit den betroffenen Personen über ihre Schwierigkeiten, Ängste und Nöte zu sprechen.  

Patrick Manzoni: Für das veränderte Anzeigeverhalten, das angesprochen wurde, gibt es noch eine weitere Erklärung: die persönliche Einstellung dazu, wie man mit Gewalt umgeht. Man will kein:e Verräter:in sein, weil es Ehrensache ist, sich selbst zu verteidigen, wenn man angegriffen oder beleidigt oder die Ehre der Familie beschmutzt wird. Und wie verschiedene Studien zeigen, hat der Anteil der Männlichkeitsnormen zustimmenden Jugendlichen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.  

Sucht man Anschluss an eine Jugendbande, weil man solche Einstellungen teilt?
Patrick Manzoni: Allgemein sucht man sich Freund:innen, die einem ähnlich sind und vielleicht dieselben Probleme haben wie man selbst. Wer der Gewalt gegenüber positiv eingestellt ist, wird sich entsprechende Freund:innen suchen. Diese haben dann vielleicht auch schon Gewalt oder Straftaten ausgeübt. Ob man dann erst in der Gruppe gewalttätig wird – das wäre der lerntheoretische Ansatz – oder ob sich nur bereits gewalttätige oder kriminelle Jugendliche zu einer Gruppe zusammenschliessen – was man den Selektionseffekt nennt –, lässt sich aufgrund der Studien nicht klar sagen.  

Natalie Bühler: Meines Erachtens geschieht es oft aus einer Not. Warum bezeichnen sich Jugendliche als Teil einer Gruppe junger Menschen, die nicht ihre Freunde sind? Bei uns gibt es Jugendliche, die einander Essen und Kleider bringen. Oder ein Sofa zum Übernachten anbieten, wenn einer auf Kurve ist. Da kann eine starke Abhängigkeit entstehen. Ich habe oft das Gefühl, dass manche Jugendliche gar nichts anderes kennen. Das sind keine Freundschaften, in denen man sich füreinander freut, wenn zum Beispiel einer eine Lehrstelle findet. Stattdessen gilt er als Streber und «Loser». Es soll ihm nicht besser gehen als einem selbst. Und so beginnt die Abwärtsspirale.  

Beatrice Burgener: Ich kann das bestätigen. Vor allem in Familien, in denen die Eltern als hilflos erlebt werden oder gar abwesend sind, haben Jugendliche das Gefühl, sich selbst beschützen zu müssen. Alle Jugendlichen, mit denen ich bis jetzt gearbeitet habe, haben selbst Opfererfahrungen gemacht – und zwar unabhängig davon, aus welchem sozialen Milieu sie stammen.  

Eltern stehen seit einiger Zeit stark in der Kritik, gerade wenn es um übervolle jugendpsychiatrische Kliniken und um Jugendkriminalität geht.
Patrick Manzoni: Fehlende elterliche Kontrolle ist erwiesenermassen ein Faktor für Jugenddelinquenz. Auch wenn Eltern zu wenig Grenzen setzen oder ganz allgemein die Bindung wenig stark ist. Wobei ich betonen möchte, dass ich niemanden verurteilen will. Die Gründe der Eltern, sich nicht eingehender mit ihren Kindern auseinanderzusetzen oder auseinandersetzen zu können, sind ganz unterschiedlich.  

Beatrice Burgener: Heute wird erwartet, dass die Eltern alles richten – und die Schule. Das sind überladene Systeme. Der Rest der Gesellschaft kümmert sich nicht. Ich vermisse das Kollektivbewusstsein.  

Wie könnte man dieses stärken?
Natalie Bühler: Zum einen muss man ein Vorbild sein. Doch statt selbst respektvoll mit den Jugendlichen zu sprechen, wenn man sich gestört fühlt, beschimpft man sie, wirft einen Gegenstand aus dem Fenster oder ruft man die Polizei. Wie sollen Jugendliche da lernen, dass man miteinander reden statt brüllen und sich prügeln soll? Zum anderen muss man die Systeme viel besser zusammenbringen: Eltern, Schulen, Fachstellen. Und man muss die Systeme stärken, statt sie noch mehr zu überlasten wie beispielsweise die Schule. Lehrpersonen sollen unterrichten und nicht noch unzählige andere Dinge übernehmen müssen.  

Patrick Manzoni Ich stimme dem zu, aber wenn man früh anfangen will, dann landet man eben doch bei den Eltern. Die grosse Herausforderung in der Präventionsarbeit ist, dass man viele Eltern von Kindern in diesem Alter nicht erreicht. Und wenn körperliche Strafen im familiären Umfeld toleriert werden, sehen Eltern auch keinen Grund, Unterstützung zu holen. Sich in den privaten Bereich einzumischen, ist immer noch heikel, auch für Aussenstehende wie beispielsweise Nachbar:innen.  

Beatrice Burgener: Ich finde, in unserer Gesellschaft wird zu sehr auf die bürgerliche Kernfamilie fokussiert. Auf das Zweiersystem Mutter-Vater oder das Ein-Eltern-System, die alles können und abdecken müssen. Da haben wir uns verrannt. Früher war das Umfeld grösser, seien es Verwandte, seien es Freund:innen oder Nachbar:innen. Die Erfahrung aus meiner Arbeit mit Familien zeigt: Viele Familien sind überfordert. Sie müssen den starken gesellschaftlichen Wandel und die damit verbundenen Herausforderungen und Frustrationen allein stemmen. Wer kann das schon? 

Veranstaltung «Jung und delinquent – was tun?»

Eine kleine Gruppe junger Menschen ist verantwortlich für die grosse Mehrheit aller Straftaten. Dies bestätigen zahlreiche Studien, zuletzt die von der ZHAW durchgeführte schweizweite Befragung von über 11 000 Schüler:innen im Rahmen der «Self-Reporting Delinquency Study».

In der Veranstaltung «Jung und delinquent – was tun?» werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt. Dabei wird auf die jugendlichen Intensivtäter:innen fokussiert: Wie verbreitet sind solche Taten überhaupt? Und welche Faktoren führen dazu, dass einige Jugendliche viele Straftaten begehen?

Information und Anmeldung