Konflikte im öffentlichen Raum: Was tun, wenn die Jugend Party macht
Je wärmer die Abende, desto mehr junge Menschen zieht es nach draussen. Nachdem es dort öfter zu Gewalttaten kam, startete die Stadt Zürich nun ein Pilotprojekt mit der Offenen Jugendarbeit Zürich (OJA). Es wird unterstützt von ZHAW-Dozent Martin Biebricher.
Interview: Regula Freuler
In den vergangenen Jahren gab es an öffentlichen Plätzen vermehrt Gewalttaten. Zum Einsatz kommen dort normalerweise die Polizei und Sip Züri (Sicherheit, Intervention, Prävention). Seit Kurzem ist auch die Offene Jugendarbeit Zürich (OJA) unterwegs. Was ist ihr Auftrag?
Martin Biebricher: Während die Polizei einen ordnungsdienstlichen Auftrag hat, soll die OJA mit dem Pilotprojekt «Mobile Jugendarbeit» die aufsuchende Jugendarbeit stärken. Sie fokussiert bewusst auf die Befähigung und die Unterstützung junger Menschen im öffentlichen Raum.
Wie ist das Pilotprojekt entstanden?
Das Utoquai und weitere beliebte Treffpunkte für Jugendliche und junge Erwachsene im öffentlichen Raum haben eine gewisse Zentrumsfunktion. Dort kam es in der Vergangenheit zu kritischen Vorfällen, Gewalttaten und Übergriffen. Der Zürcher Stadtrat hat daraufhin im Sommer 2019 das Präventionsprojekt «Surplus» angestossen, mit dem die Situation analysiert und erste Massnahmen aufgegleist wurden. Der Fokus damals lag vor allem darauf, die Präsenz von Polizei, Sip Züri und Suchtprävention an diesen Orten zu erhöhen. In diesem Jahr wird «Surplus» nun durch das OJA-Pilotprojekt «Mobile Jugendarbeit» ergänzt.
Was ist das Ziel dieses Pilotprojekts?
Es geht darum, an zentralen Orten der Stadt legitime Aufenthaltsplätze für Jugendliche zu erhalten. Ausserdem will man die Jugendlichen darin unterstützen, sich solche Aufenthaltsplätze anzueignen und diese verantwortungsvoll zu nutzen. Trotz der berechtigten Diskussionen um eine Zunahme von Gewalttaten dürfen wir nämlich nicht vergessen, dass die allermeisten Teenager den öffentlichen Raum friedlich nutzen wollen. Es geht ums Sehen und Gesehenwerden, Freunde treffen, flirten und auch darum, sich von den für die Jugendlichen zunehmend strenger werdenden Anforderungen des Erwachsenwerdens ein wenig zu erholen.
Warum halten sie sich in so grosser Zahl draussen auf und gehen nicht in Clubs?
In kommerziell ausgerichteten Freizeitangeboten wie Clubs oder Bars sind viele Jugendliche und junge Erwachsene oft unerwünscht. Zum einen, weil einige von ihnen dafür noch zu jung sind, zum anderen haben sie zu wenig Geld, um sich einen teuren Abend im Ausgang leisten zu können. So gesehen sind Jugendliche oft die Leidtragenden, wenn es zu Konflikten in der Öffentlichkeit kommt. Sie erleben eine Verdrängung aus dem öffentlichen Raum und unterliegen zugleich dem Generalverdacht, für eine Zunahme von Littering oder Gewaltdelikten verantwortlich zu sein. Und sie sind überdies oft noch Opfer von gewalttätigen Übergriffen derjenigen, die sich nicht an die Regeln halten.
Der Kontakt zwischen den Jugendlichen und der mobilen Jugendarbeit beruht bewusst auf Freiwilligkeit, Vertrauen und Beziehung.
Martin Biebricher, Dozent ZHAW Soziale Arbeit
Wie sieht die mobile Jugendarbeit der OJA konkret aus?
Mitarbeitende der OJA sind an zentralen, neuralgischen Punkten im öffentlichen Raum der Stadt Zürich präsent. Dort suchen sie den Kontakt zu Jugendlichen, knüpfen und pflegen Beziehungen zu ihnen. Zudem helfen sie mit, Konflikte frühzeitig zu erkennen und bei deren Lösung zu vermitteln.
Wie sind diese Mitarbeitenden für die Jugendlichen erkennbar?
Die Mitarbeitenden der mobilen Jugendarbeit gehen direkt auf die Jugendlichen im öffentlichen Raum zu, sprechen sie an und geben sich dadurch als Jugendarbeiterinnen und -arbeiter zu erkennen. Die Erfahrung zeigt, dass die persönliche Kontaktaufnahme oft das wirksamste Erkennungszeichen ist. Die mobile Jugendarbeit ist im öffentlichen Raum sehr präsent, und die Mundpropaganda sorgt dann schnell dafür, dass die Jugendarbeitenden in der Szene bekannt sind. Ob es darüber hinaus spezifische Erkennungsmerkmale geben wird, ist offen. Dies könnten beispielsweise bedruckte Rucksäcke oder ein besonders auffälliger Veloanhänger sein. Diese dürfen aber nicht zu aufdringlich oder bemüht wirken, denn das würde die Jugendlichen abschrecken beziehungsweise sogar dazu führen, dass die Jugendarbeitenden von den Jugendlichen nicht ernstgenommen würden.
Wollen Jugendliche nicht einfach einen Raum für sich haben, statt ständig von Erwachsenen betreut und beobachtet zu werden?
Auf keinen Fall darf die mobile Jugendarbeit dazu beitragen, die letzten, ohnehin immer enger werdenden Freiräume für Jugendliche nun auch noch pädagogisch zu überformen. Das Ganze heisst ja Pilotprojekt. Man wird sehen, wohin es sich entwickelt. Denkbar ist, dass daraus konkrete Aktivitäten, Angebote und Projekte für Jugendliche entstehen. Das alles muss aber freiwillig sein und sollte situativ und gemeinsam mit den Jugendlichen entwickelt werden.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Behörden?
Es ist wichtig, dass die Jugendarbeitenden der OJA mit anderen Akteuren im öffentlichen Raum gut vernetzt sind, zum Beispiel mit der Polizei, der Sip Züri, der Saferparty Streetwork oder auch mit den Entsorgungsbetrieben ERZ. Der mobilen Jugendarbeit kommt eine Art Seismografenfunktion zu im Hinblick auf jugendrelevante Veränderungen oder problematische Entwicklungen im öffentlichen Raum.
Darf die OJA Namen und Daten der Jugendlichen sammeln und allenfalls an die Behörden weiterleiten oder anderweitig nutzen?
Nein, auf keinen Fall! Der Kontakt zwischen den Jugendlichen und der mobilen Jugendarbeit beruht bewusst auf Freiwilligkeit, Vertrauen und Beziehung. Ohne diese Grundhaltung würden die Jugendarbeitenden gar keinen Zugang zu den Jugendlichen finden. Ein gezieltes Sammeln von Namen und Daten oder gar deren Weitergabe wären absolut kontraproduktiv. Nochmal: Die mobile Jugendarbeit ist nicht für das Aufrechterhalten von Sicherheit und Ordnung zuständig, dies ist Aufgabe von Polizei. Bei aller notwendigen Vernetzung gilt es deshalb auch, auf der Ebene des Einzelfalls eine kritische Distanz zu den Ordnungskräften zu halten – natürlich in gegenseitiger Anerkennung der jeweils unterschiedlichen Aufgaben und Zuständigkeiten.
Wie unterstützt die ZHAW Soziale Arbeit das Pilotprojekt?
Wir beraten die OJA bei der Konzipierung des Projekts, vor allem bei der Entwicklung von stimmig formulierten Zielen. Es geht darum, die mobile Jugendarbeit konzeptionell angemessen im Fachdiskurs zu verorten und damit zu gewährleisten, dass sie dem neusten Erkenntnisstand entspricht. Ausserdem helfen wir mit, Indikatoren zu entwickeln, anhand derer die Wirksamkeit des Projekts überprüft werden kann.
Viele junge Menschen kommen am Wochenende vom Land in die Stadt. Tun die Gemeinden zu wenig für die Jugendlichen?
Ich berate häufig Gemeinden im Umland bei der Konzeption und Weiterentwicklung ihrer Jugendarbeit. In diesem Zusammenhang führe ich regelmässig Interviews mit Jugendlichen. Dabei erfahre ich, wie viele von ihnen sich stark mit ihrer Heimatgemeinde identifizieren und dass sie vielfach ihre Freizeit lieber dort verbringen würden, als in die Stadt zu fahren.
Warum tun sie es dennoch?
Die Möglichkeiten, sich als Jugendliche in der Öffentlichkeit zu treffen, sind dort häufig noch viel eingeschränkter als in der Stadt. Manche Gemeinden haben das Potenzial, das in einer so hohen Identifikation der Jugendlichen liegt, bereits erkannt und bauen ihre Angebote für Jugendliche aus. Andere Gemeinden tun aber noch zu wenig bis gar nichts. Das ist schade. Diese Gemeinden verbauen sich einen Teil ihrer Zukunft, wenn sie ihre Jugendlichen aus dem öffentlichen Raum verdrängen, anstatt diese mit attraktiven Angeboten und vor allem mit einer Akzeptanz für die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens an sich zu binden. Sie müssten tragfähige Strukturen der Kinder- und Jugendförderung aufbauen, sie finanziell und politisch dauerhaft absichern. Eine konsistente Kinder- und Jugendpolitik ist eine wichtige Investition in die Zukunft.