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Soziale Arbeit

Lügen sind wahr, ganz besonders in der Sozialen Arbeit

Wer nicht angelogen werden will, sollte sich bei der Berufswahl vielleicht für die Tierpflege entscheiden, aber sicher nicht für Soziale Arbeit.

Zuhören statt belehren: Erst wenn Sozialarbeitende die Lügen ihrer Adressat:innen als Ressource verstehen, in ihrem eigenen Handeln Lügen aber vermeiden, entsteht Vertrauen. (Bild: Philotheus Nitsch)

Essay von Michael Herzig 

Wenn ich Bachelorstudierende frage, wovor sie bei ihrer zukünftigen Arbeit mit Drogen- oder Alkoholabhängigen am meisten Respekt haben werden, nennen sie üblicherweise Rückfälle, Unberechenbarkeit, Überforderung und Lügen.  

Aber Moment einmal: Lügen?  

Na ja, sie erschweren den Beziehungsaufbau. Zerstören das Vertrauen. Sind respektlos. Feige. Heimtückisch. Lügen gelten gemeinhin nicht nur als Ausdruck unmoralischen Verhaltens, sondern sind in manchen Fällen auch rechtswidrig. Sie dienen dem Erschleichen wirtschaftlicher Sozialhilfe oder eines anerkannten Status als geflüchtete Person. Deshalb gehören sie sanktioniert. Und zwar bereits beim ersten Mal, denn wer einmal lügt, wird weiter lügen, so lautet die moralisch-kategorische Position. 

Wenn das Selbst beschädigt ist

Die Steigerung einer Lüge ist die Selbstlüge. Wir kennen alle die Aussage genesener Substanzabhängiger, ihre grösste Lüge sei die Selbstlüge gewesen. Dies zu erkennen, gilt als erster Schritt zur Heilung. Zur Rehabilitation, wie es früher hiess. Zur Reintegration, wie es in den Sozialversicherungen heute noch genannt wird.  

Das macht die Krankheitseinsicht zu einer moralischen Leistung. Nicht zufällig verlangen manche Therapiekonzepte, dass sich die Therapierten bei allen Menschen entschuldigen, die sie belogen oder auf andere Art enttäuscht haben. Erst durch diesen Kniefall ebnen sie sich den Weg zurück in die Gemeinschaft der von ihnen Betrogenen. So die Überzeugung. Als wäre Sucht eine Sünde und keine Krankheit.

«Du lügst sogar dein Tagebuch an»

In einigen Denkschulen der Existenzphilosophie gilt als ehrlich, wer sich selbst ist. Was aber, wenn das Selbst beschädigt ist?  

Für meine Forschung zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen habe ich unter anderem das Tagebuch der Schriftstellerin Mariella Mehr gelesen. Sie wurde als Kind einer jenischen Familie von der Vormundschaftsbehörde fremdplatziert, woraufhin sie in Pflegefamilien, Heimen und psychiatrischen Kliniken massive psychische und physische Gewalt erleben musste. Weil sie 1965 als Unverheiratete schwanger war, noch dazu von einem Rom, wurde sie im Berner Frauengefängnis Hindelbank administrativ versorgt. Ihr Sohn Christian wurde ihr 1966 weggenommen, fremdplatziert und ebenfalls massiv misshandelt.

«Ein kategorischer Umgang mit Moral hat zu all dem Unrecht geführt, dessen sich die Soziale Arbeit im Verbund mit Medizin, Psychologie und Jurisprudenz schuldig gemacht hat.» 

Michael Herzig, Dozent an der ZHAW Soziale Arbeit, Experte für Drogenpolitik und Autor. Zuletzt erschien von ihm das Buch «Landstrassenkind: Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr» (Limmat-Verlag). 

In den frühen 1970er-Jahren versuchte Mariella Mehr, sich im Leben ausserhalb der Institutionen zurechtzufinden. Sie kämpfte mit Bindungen und Beziehungen, mit gesellschaftlichen Erwartungen und Möglichkeiten, mit ihren eigenen Hoffnungen und Ängsten, mit ihren Traumata und ihrer Alkoholsucht. Davon zeugen die Tagebucheinträge. An einer Stelle wirft sie sich selbst das Lügen vor. «Du lügst sogar dein Tagebuch an!», schreibt sie da. 

Was sind überhaupt Lügen?

Menschen, die Schlimmes erlebt haben, müssen mit ihrer Biografie weiterleben. Das Erlebte geht nie mehr weg. Therapien helfen manchmal, aber nicht immer. Alkohol, Drogen oder Medikamente ermöglichen die Alltagsbewältigung, verwischen die Erinnerungen und dämpfen die Schmerzen.  

Demselben Zweck dient auch das, was wir als Lügen bezeichnen: Das Umdeuten der eigenen Biografie, das Erfinden von Erfolgserlebnissen, das Herbeiwünschen dessen, was einem versagt worden ist, das Schummeln, das Durchwursteln, das Verdrängen, das Schönreden, das Übertreiben. 

Aber sind das wirklich Lügen? Kann man Menschen vorwerfen, ein moralisches Gebot zu unterwandern, wenn sie andere moralische Gebote – zum Beispiel jenes der Nächstenliebe – nicht erfahren durften? Und wenn schon: Wir weniger stark Versehrten legen uns unsere Narrative ebenfalls zurecht. Wer also wirft den ersten Stein?

Macht produziert Wirklichkeit

Wer lügt, macht sich nicht nur an denjenigen schuldig, die belogen werden, sondern an sich selbst und an uns allen. Jede Lüge führt dazu, dass die Wahrheit generell untergraben wird. Das ist die verinnerlichte Logik des kategorischen Imperativs, was Immanuel Kant 1797 in seiner Schrift «Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen» klarstellte.  

Die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, sei absolut, selbst wenn damit grosses Leid angerichtet werden kann.  

Aber ist «kategorisch» nicht bloss ein anderes Wort für dogmatisch? Ein kategorischer Umgang mit Moral hat in der Vergangenheit zu all dem Unrecht geführt, dessen sich die Soziale Arbeit im Verbund mit Medizin, Psychologie und Jurisprudenz schuldig gemacht hat. Dem Unrecht an armutsbetroffenen, marginalisierten, vertriebenen, rassifizierten, sexualisierten oder pathologisierten Menschen.  

Das Kategorische existiert nicht ausserhalb sozialer Beziehungen, wie Michel Foucault uns lehrte. Soziale Beziehungen sind Machtbeziehungen, Macht produziert Wirklichkeit. Wir können Moral nicht denken, ohne zu fragen, wer die Macht hat, sie zu definieren und durchzusetzen. Und wir können die Lüge nicht begreifen, ohne jene einzubeziehen, die sie glauben. Das schreibt die Philosophin Bettina Stangneth in ihrem 2017 erschienenen Buch «Lügen lesen». Die Belogenen tragen also eine Mitverantwortung an der Lüge. Die Verantwortung, sorgfältig und kritisch zuzuhören beispielsweise, womit wir bei einer Kernkompetenz der Sozialen Arbeit wären. 

Pragmatisch statt dogmatisch

Soziale Arbeit erfolgt mittels sozialer Interaktionen, die auf sozialer Ungleichheit und Machtunterschieden beruhen. Das erhöht die Verantwortung der Sozialarbeitenden. Die Verantwortung, zu fragen anstatt zu wissen, zu verstehen anstatt zu urteilen, mitzufühlen anstatt überzeugt zu sein, pragmatisch zu handeln anstatt dogmatisch.  

Versuchen Sozialarbeitende ernsthaft, die Narrative ihrer Adressat:innen zu verstehen, verblasst die Lüge. Sie wird zur Überlebensstrategie, zum Bewältigungsversuch, zur Fähigkeit, die eigenen Interessen gegen Mächtigere durchzusetzen, die eigenen Ziele trotz widriger Umstände zu erreichen oder dies wenigstens zu versuchen.  

Erst wenn Sozialarbeitende die Lügen ihrer Adressat:innen als Kompetenz oder als Ressource verstehen, in ihrem eigenen Handeln Lügen aber vermeiden und stattdessen klar, transparent und berechenbar handeln, entsteht Vertrauen. Erst dann sind sie fähig, Interaktionen trotz Rückschlägen immer wieder aufzubauen und zu gestalten. Eine Beratungsbeziehung ist nichts Statisches, wirkliche Beratungskompetenz zeigt sich in der Krise. Und von allen möglichen Herausforderungen, mit denen Sozialarbeitende in ihrem Beratungsalltag konfrontiert sein können, ist angelogen zu werden eine der kleinsten.  

«Der Mensch ist das, was er daraus macht, wozu er gemacht worden ist», schrieb der französische Philosoph Jean-Paul Sartre im Jahr 1960 in «Kritik der dialektischen Vernunft». Es ist eine Aufgabe der Sozialen Arbeit, ihren Adressat:innen zu helfen, mit und trotz dem, was aus ihnen gemacht worden ist, sich selbst zu sein. Aus diesem Grund haben die Adressat:innen immer recht, auch wenn sie lügen.