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Soziale Arbeit

Märchen im Coaching: Geschichten helfen, Probleme zu benennen und zu begreifen

Coachin und Supervisorin Rahel Roth integriert Geschichten in ihre Beratungsgespräche. Diese Methode wirkt auf vielfache Weise positiv und lösungsorientiert.

In Märchen wie dem Froschkönig können Coachees ihre eigene Situation spiegeln. (Bild: KSTA/Nikolas Janitzki)

von Regula Freuler

«Es war einmal eine Frau, die mit ihrem Leben so zufrieden und glücklich war, dass sie ewig leben wollte…», beginnt Rahel Roth zu erzählen und muss dabei selbst kurz lachen. Das ist mitunter einer der Gründe, warum die Coachin und Supervisorin verschiedene Arten von Geschichten in ihre Beratungsgespräche integriert: «Ich freue mich, wenn Menschen lachen, und gleichzeitig bringen solche Erzählungen mehr Leichtigkeit in mein Leben und meinen Beruf.»

Geschichten begleiten die 43-jährige Zürcherin schon ihr Leben lang. Als Kind liebte sie Märchen mit Happy-end. Und weil sie auch noch als Erwachsene gerne Geschichten las und vortrug, liess sie sich nach ihrem Bachelorstudium in Sozialer Arbeit an der ZHAW und einer Weiterbildung zur Systemtherapeutin als Märchenerzählerin ausbilden. Seit 2011 tritt sie regelmässig auf Kleinbühnen, in Klassenzimmern und an privaten Anlässen auf und erzählt Geschichten. Ausserdem arbeitet sie in Teilzeit bei den Sozialen Diensten der Stadt Zürich als Berufsbeiständin sowie als Studienbegleiterin an der ZHAW.

Ressourcen aktivieren

Mit einer Arbeit über die Wirkung von Geschichten in Beratungssettings schloss sie nun ihren Master in Supervision, Coaching und Mediation ab. «Ich wollte analysieren, wie sich passende Geschichten für die Beratung finden lassen und wie Beratungsinterventionen gelingen können», erklärt Roth die Themenwahl für ihre Abschlussarbeit. 

Geschichten zu erzählen, versteht sie als eine ziel- und lösungsorientierte Arbeitstechnik, die stark darauf abzielt, Ressourcen beim Coachee zu aktivieren. Geschichten regen die Vorstellungskraft an und öffnen den Raum für das Gedankenspiel. Sie geben die Möglichkeit zur Identifikation und zum Lernen am Modell. Dabei können neue Ideen und Strategien zur Lösung eines Problems entstehen. Die Menschen erkennen sich in Bildern oder Archetypen, wie Roth sie nach dem Psychoanalytiker Jung nennt. «Märchen helfen also mittels der bildhaften Sprache, uns etwas vorzustellen und dadurch neue Realitäten zu kreieren», weiss sie. «Sie sind ein Rat, aber kein Schlag.»

«Wenn ich in einem Beratungsgespräch eine Geschichte erzähle, kann sich der Coachee für einen Moment zurücklehnen. Das schafft eine Balance in der professionellen Beziehung.»

Rahel Roth, Coachin, ZHAW-Studienbegleiterin und Sozialarbeiterin Stadt Zürich

Metaphern sind entscheidend an der Konstruktion unserer Wirklichkeit beteiligt, betont Roth und weist auf die entsprechende Forschung zur systemischen Therapie und Beratung hin: «Metaphern beschreiben das Erleben von Menschen – vor allem dann, wenn genaue Beschreibungen nicht greifen oder einem die präzisen Begriffe fehlen.» Märchen, so Roth, können als eine komplexere Form von Metaphern betrachtet und als solche eingesetzt werden: «Sie helfen den Menschen, ihre Probleme zu benennen und zu verstehen.»

Geschichten unterstützen die Erinnerung

Geschichten – seien es nun Märchen, Gleichnisse, Parabeln, Legenden, Fabeln, Schwänke oder Witze – haben noch weiteres Potenzial: Die menschliche Gedächtnisleistung ist besser, wenn die Informationen in eine Geschichte verpackt sind. Oder anders formuliert: Wissen braucht einen Handlungskontext. Geschichten können später immer wieder abgerufen werden: «Sie haben eine Depotwirkung», sagt Rahel Roth und berichtet von Coachees, die auch lange Zeit später immer wieder auf eine Geschichte zu sprechen kommen, welche die Coachin ihnen erzählt hat. «Ich bekomme das Feedback manchmal noch nach Monaten oder Jahren, dass Leute sich an eine Geschichte erinnern und auf ihre Situation anwenden.»

Besonders schätzt Roth auch die Wirkung, die Geschichten auf die Beziehung von Coachin und Coachee haben können. Normalerweise geben Coachees einen immensen Vertrauensvorschuss und sind sehr aktiv, während die Coachin oder der Coach kaum etwas von sich preisgibt. «Wenn zur Abwechslung ich etwas erzähle, können sie einen Moment zurücklehnen. Das schafft eine gewisse Balance – wie das auch in einer anderen zwischenmenschlichen Beziehung der Fall ist.» Zudem bieten Geschichten die Möglichkeit, ein Problem von aussen zu betrachten und zu externalisieren. «Die Narration ist dann einfach ein Angebot, den vorgeschlagenen Lösungsweg anzunehmen oder nicht, ohne sich angegriffen zu fühlen und ohne direkt mit seinem eigenen Unvermögen konfrontiert zu werden, bei einem Problem anzustehen.»

Nur auf Wunsch

Die Wirksamkeitsforschung im Bereich von Beratung und Coaching befindet sich noch in den Anfängen. Das gilt auch für die Forschung zu Geschichten in Gesprächssettings. Was gut bekannt und belegt ist, sind einzelne Aspekte des Erzählens. «In meiner Praxis bestätigen sich diese», betont Roth.

Über die Jahre hat sie nicht nur gelernt, welche Geschichten zu welchen Situationen passen, sondern auch zu wem. Frauen seien generell offener für diese Methode. Wichtig sei ausserdem, dass eine Geschichte nicht einfach unvermittelt erzählt, sondern zuerst einmal angeboten wird. «Die Coachees können sie sonst weniger gut einordnen oder gar nichts damit anfangen», sagt die Supervisorin. «Das ist dann enttäuschend für beide Seiten.»

Einige Texte erzählt sie immer wieder gerne. Volksmärchen liegen Roth mehr als düstere Sagen, kurze und lustige mehr als allzu moralische. Sie ist auch nie um eine Geschichte verlegen. Bei ihr zu Hause stehen rund 2000 Märchenbände im Regal, jeder enthält rund 300 Geschichten. Abends vor dem Zubettgehen liest sie eine. «Ich bin noch für viele Jahre eingedeckt», sagt Rahel Roth.

Und wie geht es eigentlich weiter mit der Geschichte von der Frau, die sich ein ewiges Leben wünschte? Die Coachin lacht noch einmal: «Sie ging zu einem Weisen, der ihr riet, zukünftig auf Fleisch, Zucker, Alkohol und Männer zu verzichten. ‹Dann werde ich ewig leben?›, fragt die Frau. ‹Nun›, antwortet der Weise, ‹zumindest wird dir der Rest deines Lebens wie eine Ewigkeit vorkommen.›»

Weiterbildungsangebot MAS Supervision, Coaching und Mediation

Im MAS Supervision, Coaching und Mediation lernen die Teilnehmenden, Menschen prozessorientiert zu beraten und in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Dabei eigenen sie sich grundlegende Professionskompetenzen und die entsprechenden Methoden an. Diese Weiterbildung richtet sich an Fach- und Führungspersonen aus Sozialer Arbeit, Bildung, Pädagogik, Personalwesen, Gesundheit, Kirche, Kunst und Kultur, die mit Gruppen, Teams und Einzelpersonen arbeiten.

Nächster Start am 30. August 2021 möglich.