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Soziale Arbeit

«Man muss Kindern und Jugendlichen zuhören, wenn man sie schützen will.»

Überrumpelt, verwirrt, verängstigt: Wird die Perspektive der Kinder ignoriert, drohen Interventionen zu ihrem Schutz zu scheitern. Was muss also besser laufen? Drei Fachleute geben Auskunft.

Schlüsselwort Partizipation: Um vulnerable Kinder bestmöglich zu schützen, sollte ihre Sichtweise stets berücksichtig werden. (Bild: istock)

Interview: Regula Freuler

ZHAW: «Die Perspektive des Kindes» ist das Thema der diesjährigen internationalen Konferenz der European Scientific Association on Residential & Family Care for Children and Adolescents (EuSARF). Weshalb?
Hélène Join-Lambert: Weil sie noch immer viel zu wenig beachtet wird im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Erst seit Kurzem stellen wir ein allmähliches Umdenken fest. In Frankreich zum Beispiel hat ein Fernsehbericht vor zwei Jahren, in dem Jugendliche von ihren Heimerfahrungen erzählten, viel ausgelöst. Auch aus der Forschung wird deutlich, dass es im Kindesschutz viele Fälle gab und immer noch gibt, bei denen Kinder nicht gefragt wurden, was sie eigentlich wollten und brauchten. Daraufhin hat Präsident Emmanuel Macron mit Adrien Taquet einen Staatssekretär für Kindheit und Familie ernannt und ihn beauftragt, eine Reform aufzugleisen.

«Nicht nur die Fachkräfte müssen lernen, wie Kinder partizipieren können, sondern auch die Kinder müssen lernen zu partizipieren.»

Hélène Join-Lambert, Erziehungswissenschaftlerin, Université Paris Nanterre

Urszula Markowska-Manista: Es beginnt allein schon damit, welchen Respekt und welche Würde wir Kindern beimessen. Wie bereits der polnische Pädagoge Janusz Korczak geschrieben hat: «Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind bereits welche.» In vielen Ländern machen sie die Mehrheit der Bevölkerung aus, werden aber als Minderheit angesehen. Das hat Auswirkungen darauf, wie mit ihnen umgegangen wird. Ich denke da etwa an Flüchtlinge. In vielen Durchgangszentren und Flüchtlingslagern weltweit leben Eltern und ihre Kinder wie in einem Gefängnis. Sie werden abgeschottet, weder Sozialarbeitende noch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können erfahren, wie es ihnen geht.
Thomas Gabriel: Studien wie «Children’s Worlds» zeigen: Das Zuhören ist ein Schlüsselmoment in vielen Bereichen des Kindesschutzes, sei es nun bei Mobbing, einer Fremdplatzierung oder bei Fällen von Missbrauch. Aber nicht nur in Politik und Verwaltung, sondern auch in der Wissenschaft wird die Perspektive des Kindes noch immer nicht genug berücksichtigt.

Inwiefern driften denn die Perspektive der Fachkräfte von jener der Kinder und Jugendlichen auseinander?
TG: Ein Beispiel aus der Schweiz: Eine Mutter gab ihr Kind freiwillig in eine Pflegefamilie, weil sie drei Jahre zur See fuhr. Als sie zurückkehrte, wollte sie ihr Kind zurückhaben. Sowohl die Fachkräfte aus der Praxis wie auch die involvierten Forscherinnen und Forscher waren der Ansicht, es handle sich um eine positiv zu wertende familiäre Wiedervereinigung. Wir haben für eine Studie mit dem Kind gesprochen: Es sah das ganz anders.

«Es kursieren sehr viele Ideologien darüber, was Kinder brauchen.»

Thomas Gabriel, Leiter des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie, ZHAW

Nämlich wie?
TG: Für das Kind bedeutete die Rückkehr zur Mutter den abrupten Abbruch einer hervorragenden familiären Beziehung zu den Pflegeeltern. Aber es wurde nicht gefragt. Dieser Fall stammt von 2017. Er zeigt, dass auch die Praxis und die Wissenschaft immer noch viel dazulernen müssen.

Was wünschen sich fremdplatzierte Kinder und Jugendliche beziehungsweise solche in schwierigen Familiensituationen?
HJL: Was wir aus jüngeren Studien wissen, ist eigentlich immer dasselbe: Sie wollen, dass man sie anhört und ihre Aussagen dann auch ernst nimmt. Man muss Kindern und Jugendlichen zuhören, wenn man sie schützen will. Aber oftmals hören wir von ihnen, wenn wir sie für Studien befragen: «Ich habe es versucht, aber ich wurde nicht verstanden.»

Wie kommt es dazu?
UMM: Vielerorts haben diese Fachkräfte während ihrer Ausbildung keine partizipatorischen Kompetenzen erworben, vor allem bei älteren Generationen sehen wir das. In Polen sind es oftmals jene, die noch im Kommunismus aufgewachsen sind. Mittlerweile hat ein Generationenwechsel eingesetzt. In den Curricula an Universitäten und Hochschulen wird partizipatorischen Kompetenzen heutzutage ein hoher Stellenwert beigemessen. Eines dieser Projekte, das eine Änderung des Ansatzes für die partizipative Arbeit mit kleinen Kindern einleitet, ist Participa.

«Wir stellen ausserdem fest, dass Jugendliche ihre Rechte immer besser kennen, unter anderem, weil sie in sozialen Netzwerken unterwegs sind.»

Urszula Markowska-Manista, Universität Warschau

TG: Ein Problem ist auch, dass sehr viele Ideologien darüber kursieren, was Kinder brauchen. Kaum auszurotten scheint etwa die Vorstellung zu sein: Wenn’s der Mutter gut geht, dann geht’s automatisch dem Kind auch gut. Das ist in einer solchen Absolutheit kompletter Unsinn. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, solche Ideologien zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren oder zu widerlegen.

Reden wir hier auch von Genderideologien?
So ist es. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Perspektive der Väter im Kindesschutzverfahren fast nie vorkommt, ebenso wenig jene des Kindes. Es herrscht offenbar immer noch der Glaube, Mütter seien die einzigen, die für das Kindeswohl zuständig und kompetent sind. Aber auch in der Schweiz ist ein Umdenken im Gang.

Gibt es denn nicht auch Situationen, in denen der Wunsch eines Kindes tatsächlich nicht berücksichtig werden sollte – zu seinem Schutz?
TG: Das ist eine klassische Frage und eben auch ein heikler Punkt. Die Antwort lautet: Ja, aber. Denn es ist wichtig, dass man sich dennoch immer wieder um das Einverständnis des Kindes bemüht, auch wenn es zunächst sagt: «Ich will da nicht hin.»
HJL: Doch nicht nur die Fachkräfte müssen lernen, wie Kinder partizipieren können, sondern auch die Kinder müssen lernen zu partizipieren.
Wie meinen Sie das?
HJL: Kinder, die in Einrichtungen kommen, stammen oftmals aus Familien, in denen sie nicht lernen konnten, ihre Wünsche auszudrücken. Und die Einrichtungen wiederum fördern das auch nicht. Zumindest in Frankreich ist das so.

Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen Kinder ohne Vorankündigung von ihren Eltern getrennt und fremdplatziert werden. Weshalb gehen Fachkräfte so vor?
TG: Manche glauben, dadurch einen Konflikt umgehen zu können.
HJL: In Frankreich ist diese Praxis gang und gäbe, oftmals dann, wenn Gefahr in Verzug ist oder wenn die Eltern sich gegen eine Fremdplatzierung wehren. Behörden handeln dann aus einer vermeintlichen Kindesschutzoptik. Fakt ist: Die Kinder werden völlig überrumpelt, die Eltern auch. So beginnt die Fremdplatzierung, obwohl man weiss, dass dies der denkbar schlechteste Start für einen solchen Prozess ist.

Was löst dies bei den Kindern aus?
TG: Es verwirrt oder verängstigt sie. Ein Junge, den wir befragt haben, verwendete für seine Fremdplatzierung die Formulierung «ich bin eingeliefert worden», weil man ihn unangekündigt von der Schule abholte und ins Heim brachte. Sein Vater verhielt sich schwer gewalttätig gegen ihn. Der Junge verstand nicht, warum er aus der Familie gerissen wird und nicht sein Vater – wie hätte er es auch verstehen können, wenn niemand mit ihm redet? Wir müssen unbedingt daran arbeiten, dass Kinder bereits vor einer Platzierung einbezogen werden und dass auch danach immer wieder evaluiert wird, ob die Massnahme noch angemessen ist.

Das bedeutet in gewissem Sinn ein Machtverlust der Fachkräfte im Kindesschutz?
TG: Ja. Und in der Schweiz ist diese Machtverschiebung insofern eine komplexe Entwicklung, als wir bis 2013 kein professionalisiertes Kindesschutzsystem hatten. Bis dahin entschieden in ländlichen Gebieten oft Laien darüber, ob Kinder in ein Heim oder eine Pflegefamilie kommen.

Wie ist das in anderen Ländern geregelt?
UMM: Wir haben eine Kinder-Hotline für Fälle beziehungsweise Verdachtsfälle. Die Meldungen, die man anonym machen kann, werden schnell behandelt. Wir stellen ausserdem fest, dass Jugendliche ihre Rechte immer besser kennen, unter anderem, weil sie in sozialen Netzwerken unterwegs sind.
HJL: In der Stadt Paris gehören Kinderrechte in Schulen zum Unterrichtsstoff. Und es gibt eine Charta zwischen der Stadt und Kindern, ebenso einen Jugendrat. Bei den jüngeren Kindern ist das Wissen noch nicht so ausgeprägt wie bei Jugendlichen. Hier müssen wir noch mehr tun.

Was erhoffen Sie sich vom EuSARF-Kongress?
TG: Er ist auf jeden Fall eine grosse Chance, um den Austausch von Daten und Wissen zu intensivieren und gemeinsame Projekte anzuschieben. Selbst wenn die Systeme unterschiedlich sein mögen, so können Länder dennoch viel voneinander lernen. Das sehen wir beispielsweise beim Care Leaver Covenant, über den erfolgreich Anliegen der Careleaver in die Politik getragen wurden.
UMM: Kongresse wie dieser von EuSARF sollten uns dazu ermutigen, die Stimmen von Kindern und Jugendlichen vermehrt bei Forschungsprojekten miteinzubeziehen – und eigentlich auch bei solchen Kongressen.
HJL: Wir hoffen auf eine rege Teilnahme von Fachkräften aus der Praxis, denn ihre Erfahrungen und ihre Fragestellungen bringen die Wissenschaft voran und letztlich auch die Praxis selbst.