Eingabe löschen

Kopfbereich

Hauptnavigation

Soziale Arbeit

Menschen mit Behinderung: Zu wenig beachtete Superhelden

Chronisch Kranke, Ältere, Sans-Papiers – über viele verletzliche Bevölkerungsgruppen wurde berichtet. Ausser über Menschen mit Behinderung. Der Autor Christoph Keller protestierte öffentlich dagegen und schrieb ein Buch über sein Leben im Rollstuhl.

Der Autor Christoph Keller findet, dass in der Corona-Krise die Anliegen von Menschen mit Behinderung unter den Teppich gekehrt worden seien. (Bild: Ayse Yavas)

von Sylvie Johner-Kobi

«Jeder Krüppel ein Superheld», heisst das neue Buch von Christoph Keller. Die Provokation im Titel – über das Wort «Krüppel» liest niemand einfach hinweg – ist natürlich bewusst gewählt. Der 56-jährige Schriftsteller, der nach vielen Jahren in New York wieder in St. Gallen lebt, will Aufmerksamkeit für all jene, die oft übersehen oder übergangen werden: Menschen mit Behinderung. Menschen wie er.

Als 14-Jähriger hatte er die Diagnose Spinale Muskelatrophie erhalten, eine seltene Form von fortschreitendem Muskelschwund. Gut zehn Jahre später war er «Teilzeitrollstuhlfahrer», wie er es nennt, schliesslich ging es nicht mehr ohne das Gefährt.

Christoph Keller, der dieses Jahr den alemannischen Literaturpreis verliehen bekam, bezeichnet sein Werk als «Splitter aus der Exklusion». Es ist eine Art Collage der eigenen Erfahrungen mit baulichen Hindernissen und den Vorurteilen oder Unachtsamkeiten anderer, die er täglich überwindet. Das reicht von hohen Trottoirs über zu fest verschlossene Flaschen bis zu Partyeinladungen in Häusern ohne Lift.

Keller wechselt zwischen Prosa, Gedichten und Zitaten. In seine eigene Geschichte webt er eine fiktive ein, es gibt Bezüge zu Franz Kafkas Erzählung «Verwandlung», in der sich ein Mann plötzlich in ein Ungeziefer verwandelt. Dazu kommen Fotos von unzugänglichen Rampen, Strassen und Randsteinen sowie einige Hinweise zur Corona-Situation – Keller schloss die Arbeit am Buch im April ab.

Der Schriftsteller ist einer der wenigen Betroffenen, die sich auch öffentlich zur Corona-Krise äusserten. So wies er im Tages-Anzeiger darauf hin, dass er sich als Risikogruppe bei der zu schnellen Aufhebung von Schutzmassnahmen im Stich gelassen fühlt. Er zeigte den Mangel an Engagement in Bezug auf Menschen mit Behinderung auf. Er schrieb: «Kein Wort in unsere Richtung von der Regierung, ob auf Bundes- oder Kantons- oder Stadtebene, kein gewichtiges in den Medien. Kein mir bekannter Bericht darüber, wie es in einem Heim für Menschen mit Behinderung aussieht, kaum einer über ein ‹behindertes Einzelschicksal›.»

Organisationen waren aktiv

Christoph Kellers Aussage, dass Menschen mit Behinderung in der Corona-Krise ignoriert worden seien, beschäftigt mich. Es gibt tatsächlich auffallend wenige Medienberichte darüber, welche die Auswirkungen der Corona-Situation auf Menschen mit Behinderung aufgriffen. Nur vereinzelt ging es um Themen wie die Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung wie durch die Auswirkungen des Besuchsverbots, um die Situation von Menschen mit Behinderung in Heimen und um Herausforderungen der Corona-Krise für Menschen mit psychischer Behinderung.
Im Gegensatz zu den meisten öffentlichen Medien haben sich die Betroffenenorganisationen während Corona durchaus zu Wort gemeldet, zum Beispiel hat AGILE Behindertenselbsthilfe Schweiz ein Positionspapier zur Corona-Krise ausgearbeitet, das Anfang April 2020 publiziert wurde. Darin fordert AGILE den Bund, die Kantone und Gemeinden auf, die Situation von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen, verlangt eine «geordnete, wohlüberlegte und koordinierte Rückkehr in den Alltag», weist auf die Gefahr von Stigmatisierungen hin und warnt vor Massnahmen, die zur zusätzlichen Isolation und Fremdbestimmung von Menschen mit Behinderung führen könnten.

«Es braucht Menschen mit Behinderung, die sich einbringen, mitbestimmen und kritisieren – auch bei uns an der Hochschule.»

Sylvie Johner-Kobi, Dozentin und Projektleiterin ZHAW Soziale Arbeit

Daneben gab es viele weitere Organisationen der Behindertenselbsthilfe und Dachorganisationen für Menschen mit Behinderung, die Leitlinien, angepasste Informationen in Leichter Sprache und in Gebärdensprache sowie Handlungsempfehlungen ausarbeiteten. Und das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB veröffentlichte im Juli in Zusammenhang mit Corona vier Porträts von Menschen mit Behinderung.

Das «ganz kleine Corona-Tierchen»

Wer direkt bei Institutionen für Menschen mit Behinderung nachfragt, erfährt von erschwerter Kommunikation, etwa bei Menschen mit einer Mehrfachbehinderung. Warum verstecken plötzlich alle Betreuungspersonen ihr Gesicht hinter einer Maske? Warum darf ich nicht mehr reiten oder zu meinen Eltern nach Hause gehen? Solche Fragen trieben diese Menschen um.

«Es war uns wichtig, diese seltsamen Veränderungen im Alltag zu benennen und vor allem über die Emotionen zu sprechen, die sie bei einzelnen Klientinnen und Klienten auslösten», sagt Eva Keller, Dozentin der ZHAW Soziale Arbeit und Mitarbeiterin bei der Tanne, Schweizerische Stiftung für Taubblinde. Die Stiftung hat eine Bildergeschichte «Über das Coronavirus sprechen» entwickelt und veröffentlicht, die viele konkrete Ideen für den sozialarbeiterischen Alltag enthält.

Eva Keller berichtet von ihrer Arbeit: «Darüber zu kommunizieren, dass wir alle ein wenig wütend sind auf ‹das ganz kleine Corona-Tierchen› und auch traurig, weil wir so vieles nicht mehr tun können – solche Dinge helfen.» Es war wichtig, die Verunsicherung, welche die Schutzmassnahmen bei vielen Klientinnen und Klienten auslösten, zu thematisieren und abzufedern: «Wir sprachen auch davon, dass ‹später alles wieder gut wird›.»

Gesucht: Mehr Superhelden

Auch unabhängig von der Corona-Krise wäre ich bei vielen Passagen in Christoph Kellers Buch hängengeblieben. Als Mitarbeiterin des Instituts für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe, die zum Bereich Behinderung forscht und lehrt, fühle ich mich zum Beispiel von diesem Satz direkt angesprochen: «Behinderung wird meistens von Nicht-Behinderten verwaltet», schreibt der Autor.

Ich nehme wahr, dass bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten der Einbezug von Menschen mit Behinderung nicht immer konsequent und durchgehend erfolgt. Manchmal ist er noch eher lose und unbeholfen und muss von Betroffenenorganisationen angeregt werden.

Allerdings scheint mir, dass sich sowohl in der Forschung wie auch in der Lehre diesbezüglich viel getan hat. So sind Menschen mit Behinderung Teil von Steuer- und Echogruppen in Forschungsprojekten, zum Beispiel in unserer Studie zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Kanton Zürich. Ausserdem sind sie zunehmend in der Lehre aktiv als Dozierende involviert, etwa im Bachelorstudiengang in der Vertiefung «Diversität, Prekarität und Diskriminierung».

Die Richtung stimmt, aber es bleibt noch viel zu lernen und zu tun. Es braucht Menschen mit Behinderung, eben: Superhelden, die ungeahnte Kräfte haben, sich einbringen und einmischen, mitbestimmen und kritisieren – auch bei uns an der Hochschule. Und es braucht sowohl in der Öffentlichkeit wie an den Hochschulen eine Sensibilität für Themen der UN-Behindertenrechtskonvention wie Selbstbestimmung, Inklusion, Zugänglichkeit und gleichberechtigte Teilhabe.

Buch «Jeder Krüppel ein Superheld»