Minderjährige Flüchtlinge: Verloren zwischen Asylgesetz und Kindesschutz
Trotz rückläufiger Asylgesuche steigt der Anteil untergetauchter minderjähriger Flüchtlinge in der Schweiz. Über ihre Gründe und ihr Verbleiben ist kaum etwas bekannt. Eine Masterarbeit der ZHAW Soziale Arbeit geht dieser Lücke erstmals nach.
von Regula Freuler
Verschwindet ein Schweizer Kind, folgt in der Regel eine umfangreiche Suchaktion. Anders bei unbegleiteten Flüchtlingskindern, sogenannten Mineurs non accompagnés (MNA). Warum sie überhaupt untertauchen, welche Risiken sie dabei eingehen und wie Fachleute der Sozialen Arbeit präventiv einwirken könnten, untersucht die ZHAW-Absolventin Andrea Hartmann in ihrer Abschlussarbeit.
«Das Hauptproblem ist, dass sich die Fälle von verschwundenen Flüchtlingskindern an einer behördlichen Schnittstelle abspielen», sagt Hartmann. «Anders gesagt: Sie fallen zwischen Stuhl und Bank.» Durch das Untertauchen begeben sich die Kinder und Jugendlichen in die Illegalität und verlieren jeglichen Schutz vor Risiken wie Menschhandel, Prostitution, Delinquenz sowie Gesundheitsrisiken.
«Oftmals stehen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unter Druck, möglichst rasch Geld zu verdienen und nach Hause zu schicken. Einige von ihnen gewichten das höher als ihr eigenes Wohlbefinden.»
Andrea Hartmann, Sozialarbeiterin MSc
Rechtlich gesehen ist der Schutz von MNA eine Verbundaufgabe der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) und der Migrationsbehörde. Jedoch werden untergetauchte und polizeilich ausgeschriebene Flüchtlingskinder, über deren Verbleib man binnen zweier Wochen nichts in Erfahrung bringen kann, offiziell abgemeldet, und die Ausschreibung wird damit gelöscht. Damit verschwinden die MNA vom Radar der Behörden. «Es scheint eine Zuständigkeitslücke zu geben», folgert Andrea Hartmann. Das ist allerdings keine schweizerische Besonderheit, sondern davon wird auch in europäischen Studien zum selben Phänomen berichtet.
Genaue Erfassung schwierig
Auffällig ist, dass der Anteil minderjähriger Geflüchteter, die ihre Asylunterkünfte unkontrolliert verlassen, in den vergangenen Jahren angestiegen ist – und dies, obwohl die Zahl der Asylgesuche seit 2016 rückläufig ist.
So wurden im Jahr 2016 Asylgesuche von 1997 MNA erfasst, während 619 als untergetaucht gemeldet wurden. Im Jahr darauf haben 733 um Asyl angesucht, untergetaucht sind 537. Im Jahr 2018 hat sich die Zahl der Asylgesuche von MNA nochmals fast halbiert auf 401, während 410 als untergetaucht gemeldet wurden.
Daran zeigt sich, dass die Zahlen mit Vorbehalt gelesen werden müssen. Die Statistik des Staatssekretariats für Migration kann auch mehrfaches Untertauchen beinhalten oder Asylsuchende, die später als volljährig eingestuft werden oder noch gar nicht erfasst waren.
Bewusster Entscheid
Für ihre Masterarbeit hat Andrea Hartmann eine qualitative Methode gewählt. Sie interviewte fünf Fachpersonen, die mit MNA arbeiten, sie begleiten oder die verantwortlich sind für Mitarbeitende, welche dies tun. Zudem konnte sie einem kantonalen Runden Tisch im Rahmen des Nationalen Aktionsplans gegen Menschenhandel beisitzen und Auskünfte beim Bundesamt für Polizei einholen.
Alle Befragten haben ein Untertauchen von MNA schon erlebt. Die Reaktionen darauf fallen sehr unterschiedlich aus. «Die Spannbreite reicht von einer Bagatellisierung oder Normalisierung bis zu einer Skandalisierung», sagt Hartmann. Einig sind sich die Fachleute jedoch, dass das Untertauchen in der Regel als bewusster Entscheid gefällt wird und nicht aus dem Affekt heraus geschieht. «Das schliessen sie daraus, weil viele dieser MNA einen konkreten Plan haben, über den sie vorgängig mit Betreuenden, Beiständen oder ihrer Peergroup sprechen. Einige haben auch schon Kontakte und wissen genau, wohin sie wollen.»
Dabei fällt auf, dass alle Fachleute häufig denselben Zeitpunkt des Untertauchens beobachten, nämlich nach einem negativen Asylentscheid oder wenn die MNA feststellen, dass sie geringe oder keine Chance auf Asyl haben. Darin unterscheidet sich die Schweiz von anderen Ländern Europas, in denen die MNA in der Regel wenige Stunden nach Ankunft in einem Aufnahmezentrum oder einer anderen Betreuungsunterkunft untertauchen. Für die Soziale Arbeit in der Schweiz könnte dieses Zeitfenster präventiv genutzt werden, indem man zu den MNA ein Vertrauensverhältnis aufbaut und sie über mögliche Risiken aufklärt.
Gründe fürs Untertauchen
Warum aber tauchen Minderjährige unter, trotz drohender Gefahren? «Oftmals stehen sie unter Druck, möglichst rasch Geld zu verdienen und nach Hause zu schicken», sagt Andrea Hartmann. «Einige von ihnen gewichten das höher als ihr eigenes Wohlbefinden.»
Minderjährige aus manchen Ländern fürchten auch, von ihrer Familie zurückgewiesen zu werden, sollten sie ihre individuelle Verwirklichung über ein Einkommen für die Angehörigen stellen. «Darum nehmen viele Minderjährige auf der Flucht jede Art von Arbeit an oder sehen ein Untertauchen in die Illegalität als einzigen Ausweg», so Hartmann.
Was es dagegen laut den befragten Fachleuten und in Fachkreisen braucht, ist ein Umdenken in der Politik. Der Internationale Sozialdienst (SSI) beispielsweise vertritt den «Durable Solution Approach». Dieser würde einem Paradigmenwechsel gleichkommen: Das übergeordnete Interesse des geflüchteten Kindes soll im Vordergrund stehen und das Asylgesuch soll ein Anliegen und nicht das alles entscheidende sein. Die ganze Lebensperspektive soll beachtet werden, nicht nur die Zeit bis zur Volljährigkeit. Andrea Hartmann hält diesen Ansatz für sinnvoll: «Er würde auch der Erarbeitung einer langfristigen Perspektive entgegenkommen», ist sie im Laufe ihrer Masterarbeit zum Schluss gekommen.