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Soziale Arbeit

Natürlich sind es die Migranten – oder doch nicht?

Studien zu Jugendkriminalität sind stets ein Risiko für Forschende. Entweder erntet man danach wegen polarisierender Medienberichte den Applaus von Populist:innen. Oder die Ergebnisse selbst werden einem als populistisch vorgeworfen. Forschende müssen darum immer differenzierte Aussagen treffen. Auch wenn es keine satte Schlagzeile hergibt.

Sexuelle Gewalt gegen Sekundarschülerinnen hat zugenommen - andere Jugenddelikte aber auch, doch sie scheinen für die Öffentlichkeit weniger interessant zu sein. (Bild: iStock)

von Dirk Baier

Eine kürzlich im Kanton Zürich vom Soziologen Denis Ribeaud durchgeführte Jugendstudie kommt zu einem bedenklichen Befund: Sexuelle Gewaltopfererfahrungen haben signifikant zugenommen. Sexuelle Gewalt ist in vielfältiger Hinsicht folgenreich für die Opfer. Die Hintergründe für den statistischen Anstieg zu eruieren, ist darum ein bedeutsames Anliegen.  

Die Art und Weise, wie dieses Anliegen zu einem hochsensiblen Thema kürzlich in der «SonntagsZeitung» umgesetzt wird, lässt jedoch an Sensibilität vermissen. Es wird schnell und empirisch wenig gestützt eine Begründungsfigur gewählt, die in der Schweiz (aber weiss Gott nicht nur in der Schweiz) gern gewählt wird und die ich mit «Externalisierung» beschreiben würde: Schuld am Anstieg sind die Anderen, die Migranten, die Ausländer.

«Möglicherweise ist es eine sehr kleine Gruppe an Jugendlichen, die mit vielfältigen Belastungen aufwächst. Diese Belastungen haben zur Folge, dass diese Jugendlichen mehr oder weniger völlig enthemmt in ihrem Verhalten sind – und das kann wiederum Migrant:innen ebenso wie Schweizer:innen betreffen.»

Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention

Wie die Studienergebnisse präsentiert werden, lässt zunächst einige Fragen offen. Warum wird beispielsweise der Anstieg der sexuellen Delikte ausführlich thematisiert, nicht aber jener der Erpressungen und Raubdelikte, die ebenfalls sehr stark gestiegen sind? Diese Kontextualisierung wäre jedoch sehr wichtig. Denn sie verdeutlicht, dass Jugendgewalt seit Jahren generell steigt, nicht nur sexuelle Gewalt.  

Bei der Suche nach den Ursachen hätte eine solche breitere Perspektive sicherlich geholfen. Und warum wird auf die Verdreifachung der Opferrate der Sekundarschülerinnen fokussiert? Ist nicht die Ver-2,7-fachung der Gymnasiastinnen ebenfalls der Rede und der Suche nach den Ursachen wert – die dann vielleicht etwas anders ausgefallen wäre?

Eine Frage des Delikts

Ausserdem: Warum wird nicht darauf eingegangen, wie «sexuelle Nötigung» im Fragebogen gemessen wurde? Die Nutzung dieses Begriffs insinuiert, dass es sich in jedem Fall um schwere, Vergewaltigungen ähnliche Übergriffe handelt. Wenn ich richtig informiert bin, wird in der Befragung eine Aussage genutzt, die wir an meiner früheren Wirkungsstätte, dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen einst eingesetzt haben und im Laufe der Jahre bewusst veränderten, weil sie die Nötigung eben nur bedingt erfasst: «Jemand zwingt dich mit Gewalt oder durch ernsthafte Androhung von Gewalt zu sexuellen Handlungen oder zur Duldung von sexuellen Handlungen, die du nicht willst (z.B. eine Vergewaltigung oder dir wird gegen deinen Willen zwischen die Beine gefasst).»

Gerade das zweite Beispiel in der Klammer macht deutlich, dass auch schwerere Formen der Belästigung angesprochen werden. Und dies ist wichtig, weil der #MeToo-Effekt zwar als Erklärung für die Anstiege ausgeschlossen wird; wenn aber sexuelle Belästigungen durch die Abfrage eben doch mitgemessen werden, kommt diese Erklärungsfigur wieder ins Spiel.

Polizeistatistiken widersprechen Verdacht

Nun aber zur eigentlichen Frage: Hat die mindestens Verdopplung oder gar Verdreifachung der sexuellen Gewalt gegen Schülerinnen (aller Schulformen!) etwas mit Migranten, der fehlenden Durchmischung von Migranten mit Einheimischen oder ähnlich zu tun? Hierfür gibt es meines Wissens keine stichhaltigen Belege. Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik, die im Feld der Sexualdelikte aufgrund einer eher geringen Anzeigebereitschaft bedingt aussagekräftig ist, zeigt zu den 15- bis 17-jährigen Jugendlichen folgenden Befund: Ein Trend zu einer zunehmenden Aktivität ausländischer Tatpersonen (die Kriminalstatistik unterscheidet nach Staatsangehörigkeit) ist weder bei Belästigungen noch bei Nötigungen und Vergewaltigungen zu erkennen.  

Zu den Nötigungen ergibt sich tendenziell sogar das Gegenteil: Die Anzahl Beschuldigter mit Schweizer Staatsangehörigkeit ist seit 2015 etwa bei 40 stabil geblieben, die mit ausländischer Staatsangehörigkeit hingegen von 33 auf 20 (2021) gefallen. Auch bei anderen Jugendgewaltdelikten haben frühere Auswertungen zur Kriminalstatistik gezeigt, dass die Anstiege der letzten Jahre mehr auf das Konto der Schweizer denn der ausländischen Jugendlichen gehen.

Mehr Schweizer Tatpersonen

Auch aus schweizweit repräsentativen Dunkelfeldbefragungen ergibt sich kein Hinweis darauf, dass ausländische Personen im Bereich sexueller Gewalt aktiver werden würden. In unserer zu Beginn des Jahres veröffentlichten Untersuchung, in der wir eine Befragung aus 2015 mit einer Befragung aus 2021 vergleichen, zeigt sich, dass der Anteil an Schweizer Tätern von 42,2% auf 47,2% gestiegen ist.  

Auch in unserer Befragung hatte sich ein Anstieg von Sexualdelikten gezeigt (breit definiert, inklusive Belästigungen). Wobei sich dieser Anstieg dann eben gerade nicht mit einer zunehmenden Aktivität ausländischer Tatpersonen erklären lässt. Weitere Statistiken, die helfen würden, die Begründungsfigur «ausländischer/migrantischer Täter» zu widerlegen (oder zu bestätigen), sind mir nicht bekannt.

Erfolglose Suche nach Gründen

Zudem ist in Bezug auf diese Begründungsfigur folgendes zu beachten: Den Ausländer beziehungsweise den Migranten gibt es nicht. Je nach Staatsangehörigkeit und Herkunft ergeben sich sehr unterschiedliche Kriminalitätsbelastungen. Das haben frühere Studien immer wieder gezeigt. Und bei allen Gruppen gilt, dass es nur eine kleine Minderheit ist, die mit kriminellem Verhalten in Erscheinung tritt. Zu betonen ist daneben, dass Merkmale, die in Zusammenhang mit der Herkunft diskutiert werden, beispielsweise Männlichkeitsnormen, auch bei einheimischen Schweizern zu beobachten sind. Das heisst, solche Merkmale können nicht allein für Gewalt und Kriminalität der Migranten verantwortlich gemacht werden. Die patriarchalen, frauenverachtenden Migranten dort, die geschlechtssensitiven Einheimischen – so einfach ist es eben nicht.

Wenn es aber die Migranten nicht sind, die für den Anstieg der Jugendgewalt (nicht allein der sexuellen Gewalt) verantwortlich sind: Wie lässt sich der negative Trend dann erklären? Hier muss die Wissenschaft bislang weitestgehend passen. Das ist aber nichts Neues: Auch für den von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkten Rückgang der Jugendgewalt im Zeitraum 2009 bis 2015 gibt es leider nicht wirklich viele Erklärungen.

Vielfältige Belastungen als Risikofaktor

Möglicherweise spielen für den Anstieg allgemein gesellschaftliche Veränderungen eine Rolle (Stichwort: Zunahme aggressiver Selbstdurchsetzung); möglicherweise sind es die medialen Vorbilder, die Gewalt als Handlungsoption wieder salonfähiger machen.

Eine Erklärung, die von Denis Ribeaud im Bericht zur Studie angeführt wird, hat es leider nicht in die Medienberichterstattung geschafft. Dabei wäre sie für den Anstieg der sexuellen Gewalt bedenkenswert: Möglicherweise ist es eine sehr kleine Gruppe an Jugendlichen, die mit vielfältigen Belastungen aufwächst (desinteressiertes Elternhaus, fehlende Schulbindung, delinquente Freunde usw.). Diese Belastungen haben zur Folge, dass diese Jugendlichen mehr oder weniger völlig enthemmt in ihrem Verhalten sind – und das kann wiederum Migrant:innen ebenso wie Schweizer:innen betreffen. Diese Gruppen junger Menschen besser zu identifizieren und in passende Präventions- und Interventionsmassnahmen zu bringen, wäre dann ein wichtigeres Anliegen, als allein die Migrant:innen zu verdächtigen.

Beifall der Ewiggestrigen

Das Thema Migration wird in der Kriminologie gern als «Minenfeld» bezeichnet. Das muss es aber nicht sein, wenn man auf Pauschalisierungen verzichtet und empirisch differenziert Aussagen trifft und Deutungen vornimmt. Dies heisst nicht, dass man die Augen vor problematischen Entwicklungen verschliesst; Desintegration, Dominanzideologien, Ablehnung von Diversität und so weiter können Phänomene sein, die mit Migration einhergehen. Sie sind aber zweifellos nicht nur Phänomene, die Migranten betreffen.

Und es sei an dieser Stelle in aller Deutlichkeit gesagt: Nicht die ausländische Herkunft oder die Nicht-Verfügbarkeit über einen Schweizer Pass verursachen Kriminalität; es sind die Lebenschancen und Milieuzugehörigkeiten, die mit diesen Merkmalen assoziiert sind, die Kriminalität bedingen. Diese müssen wissenschaftlich untersucht und sichtbar gemacht werden. Ansonsten droht, was auch in der aktuellen Diskussion wieder zu beobachten ist: Es klatschen diejenigen bei Veröffentlichung solcher Forschungsergebnisse und Beiträge Beifall, von denen man gewiss keinen Applaus haben möchte, nämlich die Ewiggestrigen, die sich eine Gesellschaft wünschen, wie sie früher (vielleicht) einmal existiert hat, die jedoch nicht für Gegenwart und Modernität steht – und schon gar nicht für die Zukunft.

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