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Soziale Arbeit

Opfer von Zwangsmassnahmen: «Ich bin 17 Jahre alt, einsam und verlassen»

Warum es ohne persönliche Erinnerungen von Betroffenen nicht möglich wäre, das dunkle Kapitel der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Kanton Uri aufzuarbeiten.

Die meisten der Menschen, die vom Kanton Uri mit einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme belegt wurden, kamen in die nahegelegene Zwangsarbeitsanstalt Kaltbach im Nachbarkanton Schwyz.

Von Nadja Ramsauer

Über fürsorgerische Zwangsmassnahmen berichteten die Medien in den vergangenen Jahren oft. Dennoch hielt sich in Uri lange die Meinung: In unserem Kanton wurde nie jemand in einer Anstalt versorgt. Vor diesem Hintergrund begannen wir – ein Forschungsteam des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie, vor zwei Jahren, über fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Uri zu forschen. Darunter fallen zum Beispiel Einweisungen in Heime und Arbeitserziehungsanstalten, Zurückschaffungen ganzer Familien in den Heimatkanton oder Entmündigungen. Es stellte sich heraus, dass die Urner Behörden im 20. Jahrhundert weit über 300 Erwachsene und Jugendliche in Anstalten eingewiesen hatten, meistens in die nahegelegene Zwangsarbeitsanstalt Kaltbach im Nachbarkanton Schwyz, die von 1902 bis 1971 existierte. Wer dort das strenge Regime nicht befolgte, verbrachte Tage und Wochen im Arrest, und wenn es der Anstaltsvorsteher so anordnete, sogar im Dunkeln.

Die drei Zellen für die Frauen befanden sich auf dem Dachboden. In kompletter Isolation schrieben die Frauen Botschaften an die Wände für diejenigen, die ihnen in den Arrest folgen würden. Die Mitteilungen waren eine Form von Widerstand: «Ich bin 17 Jahre alt, einsam und verlassen. Man lässt mich hier, weil ich eine Freundin habe. Das alles können sie [das Personal] nicht verstehen, weil sie kein Herz für andere besitzen. Sie sind kalt wie Marmor.» Diese Graffiti legen noch heute ein bewegendes Zeugnis ab vom Anstaltsalltag und der Verzweiflung der Insassinnen. 

Isoliert und alleine

Rund zehn Kinder brachten die Urner Behörden jedes Jahr in die Erziehungsanstalt Uri in Altdorf. Die Klosterfrauen des Seraphischen Liebeswerks führten das Heim streng katholisch. Ständiges Beten prägte den Alltag. Lichterlöschen war um 21 Uhr. Wer beim Schwatzen erwischt wurde, musste eine demütigende Strafaufgabe erledigen, beispielsweise vor allen anderen Kindern auf den Knien Wasser aufwischen, das die Ordensschwestern ausgekippt hatten.

Die betroffenen Personen berichten auch von Isolation. Am Anfang ihres Aufenthalts durften sie gar nicht und später nur übers Wochenende zu den Eltern: «Auch nach Hause telefonieren war verboten. Wir hatten oft Heimweh. Viele weinten in der Nacht im grossen Schlafsaal.» Ein anderer Betroffener schildert Ähnliches: «Man war einsam. Das Heimweh am Abend war sehr ansteckend. Oft weinten mehr als zehn Buben im Schlafsaal.»  

Strenger Tagesablauf

In den Akten steht über das Geschilderte nichts. Sie zeigen den Blick der Behördenmitglieder auf die betroffenen Personen. Als «arbeitsscheu», «lasterhaft» oder «verwahrlost» wurden sie oft taxiert. Andere Archivmaterialien wie eine Hausordnung geben Aufschluss darüber, wie der Tagesablauf in der Zwangsarbeitsanstalt Kaltbach oder im Kinderheim Uri organisiert war. Die kurzen Austrittsberichte wiederum lassen erahnen, wie die Ordensschwestern ihre erzieherischen Aufgaben interpretierten, wenn sie vom «verschlossenen», «finsteren» oder «schwierigen Charakter» der Kinder sprachen und sie als «hinterlistig» oder «unehrlich» bezeichneten.

Einen Eindruck davon, wie die betroffenen Personen den Alltag in Kaltbach oder Altdorf erlebten, geben diese Dokumente nicht. Nur die rückblickenden Erzählungen der Betroffenen – oder im Falle von Kaltbach auch die Graffiti – vermögen das zu vermitteln. Wir haben deshalb für unsere Forschung mit einem Aufruf über die Opferberatung und andere Kanäle nach Betroffenen im Kanton Uri gesucht. Vier Personen haben sich gemeldet und uns ihre Geschichte erzählt. Erst diese Schilderungen machten es möglich, in allen Dimensionen zu beleuchten, was der zwangsfürsorgerische Eingriff für diese Menschen bedeutete.

Trügerische Idylle

Ein Beispiel dafür sind die Festschriften und die Jahresberichte zum Kinderheim Uri. Regelmässig wurden darin besondere Anlässe wie Ausflüge, Weihnachts- und Geburtstagsfeiern als Höhepunkte des Jahres geschildert. Das steht im harten Kontrast zu den Erinnerungen der Betroffenen: «Viel war da nicht an Weihnachten, ein paar Mandarinen mit Kerzen auf dem Tisch und ein kleiner Christbaum im Speisesaal. Aber Geschenke gab es nicht, Weihnachten wurde nicht gefeiert. Auch Geburtstagsfeste gab es keine.»

Wichtig sei den Schwestern gewesen, Idylle zu präsentieren: «Gegen aussen mussten wir immer funktionieren. […] Im Heim machten wir Theaterauftritte. Dann kamen jeweils die Höheren aus der Gemeinde, und wir mussten das einfach machen, ob wir wollten oder nicht. Es war eine reine Inszenierung. Wenn ein Behördenvertreter seinen Pflichtbesuch abstattete, sprach er nur mit den Schwestern, nicht direkt mit uns. […] Seine Verantwortung, nach uns zu schauen, nahm er nicht wahr.»  

Schweigen für immer

Die Lebensgeschichten von administrativ versorgten Personen sind geprägt von schwerwiegenden Benachteiligungen und Notlagen. Ihre Situation während einer Anstaltseinweisung war oft aussichtslos. Die Methode der Oral History, also das Befragen von Zeitzeuginnen, vermag aufzuzeigen, was den betroffenen Menschen in den Heimen und den Anstalten widerfuhr und wie sie das erlebten. Die persönlichen Erzählungen sind für die Forschung deshalb von unschätzbarem Wert. Ihre Erinnerungen erweitern das Wissen über fürsorgerische Zwangsmassnahmen, das aus der Analyse von schriftlichen Quellen gewonnen wird.

Bis es so weit war, hat es in der Schweiz lange gedauert. Schon in den 1980er-Jahren verlangten administrativ Versorgte eine historische Aufarbeitung und dass ihre Stimme gehört wird. Erst die vom Bundesrat 2014 eingesetzte Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen kam der Forderung einer möglichst umfassenden Aufarbeitung nach und im Moment befasst sich das Nationale Forschungsprogramm 76 mit dem Thema Fürsorge und Zwang.

Vor Herausforderungen stellt Forschende allerdings die Tatsache, dass je tabuisierter ein Thema ist, desto schwieriger es wird, betroffene Personen zu finden, die Auskunft geben. So hatten, nachdem das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 im Jahr 2017 in Kraft getreten war, nur 25 Urner:innen ein Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag eingereicht. Das ist ein Bruchteil aller Personen, die Zwangsmassnahmen erlebt haben. Die meisten der Betroffenen haben nie erzählt, was ihnen widerfahren ist. Manchmal wussten nicht einmal die engsten Familienangehörigen von ihrem Schicksal.