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Soziale Arbeit

Schutzstatus S: Was wir aus der Flüchtlingskrise lernen könnten

Der Zustrom an Menschen aus der Ukraine erfordert ein flexibleres Asylwesen. Das könnte Anstoss dazu geben, die Reform des vorläufigen Aufenthalts wieder politisch aufzugreifen.

von Miryam Eser Davolio, Tatjana Fenicia und Dilyara Müller-Suleymanova

Als «extrem stossend» kritisierte Miriam Behrens, die Direktorin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, kürzlich die Rechtsungleichheit, die bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine im Gegensatz zu solchen etwa aus Syrien oder Afghanistan herrscht. Und Behrens ist bei weitem nicht die einzige.

In der Tat ist es so, dass ukrainische Geflüchtete ohne Durchführung eines Asylverfahrens den Schutzstatus S erhalten, während Vertriebene aus anderen Konfliktgebieten mit Schutzstatus F nur als vorläufig aufgenommen gelten und ein Asylverfahren durchlaufen müssen. Wie lässt sich dies rechtlich begründen? Im Grunde gar nicht. Vielmehr ist es – neben einer Abstimmung mit der EU – die politische Lage, die das Asylrecht prägt. Die Ungleichbehandlung etwa beim Familiennachzug sei «politisch gewollt», sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter kürzlich in einem Interview. Damit verwies sie auf einen Entscheid des Parlaments vom vergangenen Jahr, das eine gleiche Regelung für Schutzbedürftige wie für vorläufig Aufgenommene ablehnte.

Am sozialen und beruflichen Leben teilhaben

Die Unterschiede zwischen Status S und F sind gross. Der S-Status, der 1998 im Zusammenhang mit den Jugoslawienkriegen ins Asylgesetz geschrieben, aber erst am 11. März 2022 erstmals aktiviert wurde, stellt ein Novum für die Schweiz und die EU dar. Er ermöglicht ukrainischen Geflüchteten eine mehrfache Besserstellung gegenüber Geflüchteten aus anderen Ländern. Eine davon betrifft die sofortige Arbeitsaufnahme in der Schweiz. Diese ist zwar bewilligungspflichtig, bringt aber im Vergleich zu Kontingenten und anderen Regulierungen von Arbeitskräften aus Drittstaaten wenig bürokratische Hürden mit sich.

Der Bundesrat geht zwar davon aus, dass die meisten Geflüchteten so bald wie möglich wieder in die Ukraine zurückkehren wollen. Dennoch begründet er die sofortige Arbeitsaufnahme damit, dass sie am sozialen und beruflichen Leben teilhaben sollen, um einen strukturierten Alltag zu haben, finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen und ihre beruflichen Qualifikationen nicht zu verlieren. Zudem – und darin ist man sich mit den Sozialpartnern einig – schütze man Geflüchtete auf diese Weise vor Missbrauch und Lohndumping.

Gleiche Chancen für alle Vertriebenen

Das sind alles relevante Überlegungen. Aber: Würden sie nicht genauso für die Mehrheit der geflüchteten Menschen gelten? Das lange, zermürbende Warten auf den Asylentscheid und einen möglichen Arbeitseinstieg, die Ausbeutung in prekären Beschäftigungsverhältnissen, das Leben in beengten Asylunterkünften – all das verwehrt ihnen die Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben und kann sie psychisch und physisch belasten.

Dies wissend, sollte man die neue Situation und die Einführung des S-Status dafür nutzen, um allen Vertriebenen aus Konfliktgebieten gleiche Teilhabechancen und Möglichkeiten für die Integration zu geben. Gerade die private Unterbringung könnte sich als ein starker treibender Faktor zu einer besseren und schnelleren Integration auf mehreren Ebenen erweisen – ein Anliegen, das politischen Konsens findet.

Selektive Solidarität nicht verurteilen

Es wurden bereits verschiedene Überlegungen angestellt, weshalb ein solcher asylpolitischer Richtungswechsel für die ukrainischen Geflüchteten möglich ist. Oft genannt werden die geografische und kulturelle Nähe sowie die eigene Angst vor militärischen oder anderen Formen der Aggression durch Putins Regime, die sich nach Westen hin ausdehnen könnte. Auch die Tatsache, dass es sich bei den Geflüchteten mehrheitlich um Frauen und Kinder handelt, erachten viele als Treiber für die Solidarität und Aufnahmebereitschaft. Viele Sozialarbeitende im Asyl- und Integrationsbereich empfinden aber die selektive Solidarität als unfair und bedauerlich, wenn ihnen in diesen Tagen Schweizerinnen und Schweizer Wohnungen anbieten – «aber nur für ukrainische Flüchtlinge».

Dennoch ist es kontraproduktiv, verschiedene Gruppen von Flüchtlingen gegeneinander auszuspielen. Es wäre «absurd», eine besondere Solidarität in Frage zu stellen, betonte etwa Anja Klug, die Leiterin des UNO-Flüchtlingswerks UNHCR für die Schweiz und Liechtenstein. Und sie hat Recht. Denn die Solidarität mit den aus der Ukraine geflüchteten Menschen zeigt, wie bedeutsam das Engagement auch als Zeichen gegen den Krieg ist. Dies wiederum hat einen Einfluss auf die politischen Diskurse und die allgemeine und womöglich längerfristige Aufnahmebereitschaft der Schweiz.

Kinderbetreuung und Jobs

Die Potenziale dieser neuen Situation und des neu eingeführten S-Status wurden bis jetzt noch wenig in der Öffentlichkeit diskutiert. Wichtig ist jetzt zu verfolgen, ob diese Form des raschen, unbürokratischen Zugangs zum Arbeitsmarkt die finanzielle Unabhängigkeit von Geflüchteten erhöht. Nicht vernachlässigt werden darf dabei die Frage der Kinderbetreuung, die sich bei vielen geflüchteten Müttern aus der Ukraine als zusätzliche Herausforderung stellen wird. Denn während die staatlich organisierte Kinderbetreuung in der Ukraine selbstverständlich war, gerät das Angebot von Hortplätzen in der Schweiz bald an seine Grenzen. Dazu kommt der Kostenfaktor. Dies dürfte die Arbeitsaufnahme der geflüchteten Mütter einschränken, wenn nicht alternative Betreuungsmodelle entwickelt werden.

Bund und Sozialpartner sind sich auch in Bezug auf die jugendlichen Ukrainerinnen und Ukrainer einig, dass diesen die Möglichkeit einer Integrationsvorlehre (INVOL) eröffnet werden soll. Dies gerade im Hinblick auf einen allenfalls längeren Verbleib in der Schweiz. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) rüstet die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) für die Vermittlung ukrainischer Arbeitssuchenden auf, ebenso tun dies Firmen, insbesondere im IT-Bereich, indem sie gezielt ukrainische Fachkräfte anwerben. Noch offen ist die Frage, wie sehr die Anerkennung der ukrainischen Diplome und die Deutschkenntnisse ins Gewicht fallen werden bei den Anstellungen.

Mit dem neuen Schutzstatus S keimt auch die Hoffnung, dass durch eine rasche Integration die Betroffenen trotz Kriegstraumata weniger oft psychisch und physisch erkranken, als dies im bisherigen Asyl- und Integrationssystem häufig geschieht. Denn Zugang zu Arbeit, Bildung und Wohnen sowie Familienzusammenführung ist für alle Geflüchteten elementar für einen Neuanfang.