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Soziale Arbeit

Thesen zu Handlungspraktiken und ihren machtvollen Folgen für die Soziale Arbeit, die mit und durch digitale Dinge hervorgebracht werden

Kapitalistische Wachstumslogik und algorithmische Alltagskulturen fordern die Grundlagen der Sozialen Arbeit heraus. Darum ist ein sozialpädagogischer Umgang mit Digitalität dringend notwendig, findet unsere Gastautorin.

Von Stefanie Neumaier

Mit digitalen Transformationsprozessen als «Querschnittsthema» (Neumaier/Sagebiel 2024; 2022) für die Soziale Arbeit geht eine Vielfältigkeit an Fragen einher. Um diesen Rechnung zu tragen, lohnt es sich, mit einem Blick auf gesamtgesellschaftliche Verhältnisse zu beginnen. So wissen wir, dass das kapitalistische System nach kontinuierlichem Wirtschaftswachstum durch die Erschliessung neuer Märkte strebt. Dieses Streben stösst jedoch an eine fundamentale Grenze: die Alltäglichkeit. In modernen Gesellschaften sind inzwischen alle grundlegenden lebensweltlichen Bedürfnisse bereits vom Markt durchdrungen. An diesem Punkt verlässt der Kapitalismus seine konstruktive Ebene. 

Wirtschaftswachstum zielt nicht primär auf eine Verbesserung des Alltags im sozialpädagogischen Sinne, wie es Hans Thiersch in seinem Standardwerk «Lebensweltorientierte Soziale Arbeit» von 2020 beschrieben hat. Stattdessen ist eine künstliche Erzeugung von Bedürfnislücken zu beobachten, die oft durch symbolische Machtausübung – ein Begriff, den Pierre Bourdieu 1989 entwickelt hat – vonstattengeht. Ein anschauliches Beispiel aus dem «Hightech-Kapitalismus», wie Wolfgang Fritz Haug ihn 2012 bezeichnet hat, liefert der Werbeslogan von Apple: «Wenn Du kein iPhone hast, dann hast Du kein iPhone». 

Gezielte Förderung der digitalen Kultur

Diese Logik eines ständig expandierenden Wirtschaftswachstums zur Selbsterhaltung des Systems stösst spätestens mit dem voranschreitenden Klimawandel an ihre Grenzen – wobei das Wirtschaftssystem selbst zum Klimawandel beiträgt. Um sich gegen solche Kritik zu immunisieren, gewinnen besonders postfaktische Positionen in der «Kultur der Digitalität» an Bedeutung, wie Felix Stalder sie 2016 in seinem gleichnamigen Werk beschrieben hat. 

Die vom Basler Kultur- und Medienwissenschaftler beschriebene «Kultur der Digitalität» ist kein zufälliges Nebenprodukt gesellschaftlicher Entwicklung. Sie wird von Tech-Unternehmen aktiv gefördert, um neue Wachstumspotenziale zu erschliessen. Durch die Einführung digitaler Innovationen versuchen diese Unternehmen, den Alltag der Nutzer:innen möglichst umfassend zu durchdringen. Dies ermöglicht die Sammlung von Informationen über die Nutzer:innen. Diese Informationen können in der Folge monetarisiert werden, indem personenbezogene Mechanismen eingesetzt werden, die wiederum Kaufkräfte freisetzen.

Sozialpädagogischer Einzelfall kann verloren gehen

Exemplarisch lässt sich dies anhand von Gamification-Elementen in digitalen Spielen beschreiben: Diese beginnen meist als kostenfreie Anwendungen und nutzen wiederkehrende und ereignisbezogene Belohnungsmechanismen, um die Wahrscheinlichkeit weiterer Nutzung zu erhöhen. Anreize für erneutes Spielen sind etwa das Erleben von Kompetenz, sozialer Eingebundenheit oder Autonomie, wie es der Wirtschaftsinformatiker und Begründer der empirischen Analyse motivierender Spielelemente im Projekt «EMPAMOS» Thomas Voit herausgearbeitet hat. 

Diese zunächst losen Spielpraktiken werden sukzessive durch implizite Logiken routinisiert, etwa durch zeitlich strukturierte Aufgaben innerhalb der Spielumgebung. Dies führt mindestens zu einer Verhaltenslenkung der Nutzer:innen. Für die Soziale Arbeit hat die grundlegende Algorithmisierung des Alltags, wie sie Stalder 2017 analysiert hat, weitreichende Folgen: Zwischen einer zunehmenden «Quantifizierung des Sozialen», ein Phänomen, das der Soziologe Steffen Mau 2017 in seinem Buch «Das metrische Wir» beschrieben hat, und den auf Intransparenz basierenden, mehr oder weniger wahrscheinlichen Worthülsen generativer KI droht der sozialpädagogische Einzelfall dann verloren zu gehen, wenn quantitative Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen die Oberhand gewinnen.

Postfaktische Monetarisierungspraktiken

Die Soziale Arbeit ist besonders anfällig für postfaktische Monetarisierungspraktiken im digitalen Raum, da sie sich in einer andauernden Professionalisierungskrise befindet. Die fehlende Einigkeit über einen gemeinsamen Wissenskern zwischen den verschiedenen Domänen führt zu einem Erstarken postfaktischer Positionen über die Soziale Arbeit. 

Diesen Positionen wäre mit einem eigenen Wissenskern fundiert entgegenzutreten, wie es in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Medizin der Fall ist. In digitalen Diskursräumen, in denen ökonomische Verwertungslogiken, Algorithmen und populistische Narrative oft wirkungsvoller sind als inhaltliche Argumente, verliert die Soziale Arbeit an «datensetzender Macht» – ein Begriff, den der Soziologe Heinrich Popitz 1992 in seinem Werk «Phänomene der Macht» geprägt hat – über ihr eigenes Profil. Die Folge sind polarisierende Fragmente, die oft aus sozialpolitischen Diskursen aufgegriffen werden und auf Kritik an Adressat:innen, Organisationen und Fachkräften der Sozialen Arbeit abzielen – und zunehmend auch deren Daseinsberechtigung in Frage stellen.

«Doing Digitality» als Rahmen für die Soziale Arbeit

Mit der vom Erziehungswissenschaftlicher und Sozialpädagogen Marc Weinhardt 2021 entwickelten Ansatz «Doing Digitality» lassen sich (machtvolle) Handlungspraktiken, die mit und durch digitale Dinge hervorgebracht werden, für die Soziale Arbeit einordnen. Grundsätzlich halten digitale Dinge und damit verbundene Praktiken auf zwei Arten Einzug in die Handlungsvollzüge der Sozialen Arbeit: durch eine Digitalisierung «als Prozess aktiver Innovation» sowie mit einer Digitalität «als Vollzug von Alltagskultur», wie Weinhardt ausführt. 

Dies wirft vielfältige Fragen zur Organisation von und Interaktion in der Sozialen Arbeit auf: 

  • Inwiefern strukturiert oder limitiert die dem top-down eingeführten digitalen Ding innewohnende datensetzende Macht die Organisation von und Interaktion in der Sozialen Arbeit?
  • Welche neuen Machtfragen rufen lebensweltliche Handlungsvollzüge der Adressat:innen und Fachkräfte auf den Plan?
  • Wie können «Handlungspraktiken Sozialer Arbeit, die mit und durch digitale Dinge hervorgebracht werden», wie Weinhardt sie bezeichnet, gegen postfaktische Positionen zu sozialpädagogischen Hilfeleistungen gestärkt werden? 

Entlang des Doing-Digitality-Ansatzes lässt sich feststellen, dass eine spezifisch sozialpädagogische Lesart von Digitalität erforderlich ist.

Veranstaltungsreihe Forum S: «Doing Digitality - Soziale Arbeit Macht Digitalisierung»

Wie jede Profession ist auch die Soziale Arbeit heute gefordert, sich kritisch mit Digitalisierung auseinanderzusetzen. Doch das reicht nicht: Sie muss darüber hinaus Konzepte und Methoden entwickeln, um aus der Digitalisierung das Beste für sich und ihre Adressat:innen zu machen. Die Veranstaltung «Doing Digitality» unserer Reihe «Forum S» vom 8. April 2025 leistet einen Beitrag zur Diskussion, wie Soziale Arbeit sich in einer Kultur der Digitalität entwickeln kann, die den Chancen, Möglichkeiten und auch den Anforderungen des digitalen Zeitalters in angemessener, professioneller Weise begegnet.  

STEFANIE NEUMAIER ist Herausgeberin des «Praxishandbuchs Digitale Projekte in der Sozialen Arbeit», wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Community Fellow der Digital Society Initiative der Universität Zürich. Sie ist die nächste Gästin am Forum S.