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Soziale Arbeit

Warum Geschwister im Familiencoaching wichtig sind

Die Beziehung zwischen Geschwistern ist für die familiäre Dynamik bedeutsam. Aber wird sie von Fachpersonen der Kinder- und Jugendhilfe genug beachtet, wenn sozialpädagogische Interventionen nötig sind?

Bei einer starken Geschwisterbeziehung meistert man gemeinsam Herausforderungen.
Bei einer starken Geschwisterbeziehung meistert man gemeinsam Herausforderungen. (Bild: Aleksandar Nakic / iStock)

von Ida Ofelia Brink 

Die Geschwisterbeziehung nimmt in unserer Kulturgeschichte einen besonderen Platz ein. Von der Bibel über Märchen bis zum zeitgenössischen Jugendbuch: Überall treffen wir Fälle von erbitterter Rivalität genauso wie von starkem, ja gar überlebenswichtigem Zusammenhalt an. Geschwisterbeziehungen können also, psychologisch gesprochen, der Kern sowohl positiver wie auch negativer Kräfte sein.  

Das gilt nicht nur in der Fiktion, sondern auch in der Realität. Aus diesem Grund sollten wir uns der Frage stellen, ob wir in der Kinder- und Jugendhilfe den Blick ausreichend auf Geschwister und ihre Bedeutung in der Arbeit mit Familien ausgerichtet haben. 

Familiäre Konflikte auffangen

Wachsen Geschwister gemeinsam auf, ermöglichen sie einander in der Regel erste Erfahrungen mit Gleichaltrigen. Dazu gehören Fürsorge genauso wie Streit, man entwickelt ein Gespür für Loyalität, man lernt zu teilen und sich voneinander abzugrenzen. Die Beziehung von Geschwistern kann bedeutsam sein, wenn sich die Eltern trennen oder wenn durch eine Patchwork-Konstellation neue Familienmitglieder dazukommen. Und natürlich auch ganz besonders dann, wenn Kinder in einer Pflegefamilie oder in einem Heim untergebracht werden, wo sie neue soziale Geschwister bekommen. 

Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Kinder durch die Eltern, das Zusammenleben unter ungünstigen Voraussetzungen oder gefährdende Familienkonstellationen wie materielle Armut, Vernachlässigung oder häusliche Gewalt: Das alles sind Kontexte, die den Ursprung bestimmter Familiendynamiken darstellen. Die Geschwisterbeziehung kann das Hauptproblem in einem familiären Konflikt darstellen, das Ventil elterlichen Konflikts sein oder – im Gegenteil – solche Konflikte auffangen.

Nicht bei Klischees ansetzen

Auch zwischen den Geschwistern sind verschiedene Dynamiken bekannt: Zum einen stellt ihre Beziehung eine Ressource dar, etwa wenn gemeinsam erlebte Belastungen zusammen verarbeitet werden. Zum anderen droht sie als Belastung, beispielsweise wenn sie zur Retraumatisierung beiträgt.  

Vor diesem Hintergrund gilt es, die individuelle Geschwisterbeziehung und ihre Bedeutung bei einer sozialpädagogischen Abklärung oder Intervention von Beginn an zu berücksichtigen und fachlich explizit einzuordnen. Denn sie kann für das Fallverstehen neue Anknüpfungspunkte bieten und auch für Fachpersonen aus der Sozialpädagogischen Familienbegleitung (SPF) eine zusätzliche Quelle für erweiterte Handlungsoptionen darstellen. Die Arbeit dürfte dadurch zwar komplexer werden, doch das Gesamtbild wird umfassender, als wenn man den Fokus lediglich bei Klischees ansetzt wie jenem vom «fehlenden Vater», von der «überforderten Mutter» oder vom «Problemkind».

Getrennt oder gemeinsam unterbringen?

In der Fallarbeit sollte man auf verschiedene Konstellationen achten. Dazu gehört unter anderem, wie man die Beziehung von getrennt untergebrachten Geschwistern auffangen kann. Ebenso herausfordernd: Wie geht man damit um, wenn in einer Familie nur ein Kind aus der Geschwistergruppe fremdplatziert wird, während die anderen in der Herkunftsfamilie verbleiben? Auch Kinder, die nach der Platzierung von Geschwistern geboren werden, also nicht mit dem fremdplatzierten Kind aufgewachsen sind, haben ein Recht auf ihre leiblichen Brüder und Schwestern. Wie können auch sie angemessen berücksichtigt werden? Und was bedeutet eine Rückplatzierung der Geschwister oder einzelner Kinder für die Geschwister- und Familiendynamik, insbesondere, wenn sie nicht gemeinsam platziert waren? 

Wenn Fachleute eine Fremdplatzierung aufgleisen, müssen sie zunächst entscheiden, ob Geschwister gemeinsam oder getrennt voneinander unterzubringen sind. Es gilt zu klären, ob eine Trennung der Geschwister den einzelnen Kindern überhaupt zugemutet werden könnte und wie man die Bedürfnisse der einzelnen Kinder bei einer gemeinsamen oder bei einer getrennten Unterbringung berücksichtigen kann.

Wenn es destruktiv wird

Besonders schwierig bei einer Entscheidung ist der Umstand, dass Geschwisterbeziehungen grundsätzlich ambivalent sind. Anders gesagt: Auch Kinder, die sich meistens blendend verstehen, geraten manchmal in Konflikt miteinander. Oder umgekehrt. Die Qualität der Geschwisterbeziehung sollte nicht voreilig aufgrund von Einzelsituationen beurteilt werden. 

Auch deshalb sollte man als Fachperson keinen Regelfall formulieren, der pauschal für gemeinsame oder getrennte Unterbringung plädiert. Einzelfälle können durchaus eine – möglicherweise zeitlich limitierte – Trennung erfordern. Zum Beispiel, wenn die Geschwisterbeziehung destruktiv und hochkonflikthaft ist und solche Dynamiken von den Fachpersonen nicht aufgefangen werden können.  

Sich der eigenen Rolle bewusst sein

Eine gemeinsame Platzierung von Geschwistern kann in der Praxis möglicherweise nicht nur aus individuellen, sondern auch aus praktischen oder strukturellen Gründen gar nicht umsetzbar sein. Das heisst, institutionelle Vorgaben, strukturelle Rahmenbedingungen oder aber das Wissen der Fachkräfte beeinflussen, ob und inwieweit in der Praxis die Geschwisterbeziehungen tatsächlich in Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

Doch selbst wenn Geschwisterpaare getrennt voneinander untergebracht werden, können Fachpersonen alternative Formen prüfen, um bei der Entfaltung einer konstruktiven Geschwisterbeziehung unterstützend zu wirken. Dazu gehören eine gemeinsame Haltung in der Institution wie auch ein explizit reflektierter Umgang mit dem Thema. Und was nie vergessen gehen darf: Bei allen Entscheidungen müssen sich Fachpersonen sowohl ihrer eigenen Rolle wie auch ihrer Verantwortung bewusst sein.
 

Literatur 

Petri, Corinna (2015): Geschwister in riskanten Familienkonstellationen. In: Brock, Inés (Hg.): Bruderheld und Schwesterherz. Geschwister als Ressource. S. 83-96. Giessen: Psychosozial Verlag. 

Reimer, Daniela (2020): Geschwisterbeziehungen bei fremduntergebrachten Kindern – Belastungen und Ressourcen. S. 194-214. In: Brisch, Heinz (Hrsg.): Bindung und Geschwister. Vorbilder, Rivalen, Verbündete. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. 

Rudeck, Reinhard (2012): Helft uns, Geschwister zu sein! Gemeinsam aufwachsen im Spannungsfeld von Individualität und Familialität. In: Sozialpädagogisches Institut (SPI) des SOS Kinderdorf e.V. (Hrsg.) (2012). SOS-Dialog 2012. Geschwister (S.4-8). München: Eigenverlag. 

SOS-Kinderdorf (2012): Weil wir Geschwister sind. Geschwisterbeziehungen in der Fremdunterbringung. SOS Kinderdorf International (Hrsg.). Dialogwerkstatt, Italien.  

Walper, Sabine; Thönnissen, Carolin; Wendt, Eva-Verena; Bergau, Bettina (2009): Geschwisterbeziehungen in riskanten Familienkonstellationen. Ergebnisse aus entwicklungs- und familienpsychologischen Studien. Hrsg. vom Sozialpädagogisches Institut (SPI) des SOS-Kinderdorf e.V. Materialien 7 (aktualisierte Onlineausgabe 2010).