Was tun gegen den Fachkräftemangel im Sozialwesen?
Mehr Studienplätze, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Lobbyarbeit – Vorschläge gibt es viele. Aber was hilft wirklich? Drei Expertinnen ordnen Strategien und Perspektiven ein.
Interview: Regula Freuler
Letztes Jahr waren in der Schweiz so viele Stellen unbesetzt wie seit 20 Jahren nicht mehr. Der Fachkräftemangel beschäftigt viele Branchen. In Deutschland ist er im Sozialwesen am grössten. Wie sieht das in der Schweiz aus?
Lucrezia Bernetta: Es gibt keine ganz aktuelle Erhebung dazu. Aber laut den drei zwischen 2016 und 2019 durchgeführten Erhebungswellen der Laufbahnstudie im Sozialbereich von Savoirsocial, der Dachorganisation der Arbeitswelt Soziales, sind die Handlungsfelder Sozialpädagogik und Soziokulturelle Animation am stärksten betroffen. Bei Abschluss der Studie rechnete man mit keinem übermässigen Fachkräftemangel bis Mitte 2024. Dennoch wurde empfohlen, Massnahmen zum Personalerhalt zu ergreifen, weil man bereits eine überdurchschnittlich hohe Abwanderung erkannte.
Regula Enderlin: Seit 2022 stellen wir in der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime einen beachtlichen Fachkräftemangel bei Sozialpädagog:innen fest. Ist der Standort der Einrichtung abgelegen, verschärft sich die Problematik nochmals. Doch letztlich ist es für alle schwierig, ihre Stellen mit dem bevorzugten Personal zu besetzen, also Menschen mit Lebens- und Berufserfahrung.
«Wichtiger als eine Fachkarriere sind Weiterbildungen, damit Mitarbeitende nicht ausbrennen.»
Regula Enderlin ist promovierte Sozialpsychologin und stellvertretende Geschäftsführerin der Stiftung Zürcher Kinder und Jugendheime.
Wieso zeigt dann der Fachkräftemangel-Index des Personaldienstleisters Adecco einen Fachkräfteüberschuss in der Soziale Arbeit an?
Lucrezia Bernetta: Der Index gibt ein falsches Bild wieder, weil die Berufsgruppe, unter welche Sozialarbeitende fallen, extrem heterogen zusammengewürfelt ist. Der Index zählt auch Erwerbstätige aus dem Rechtsbereich, den Medien, der bildenden Künste und so weiter dazu.
Daniela Wirz: Aufgrund der Savoirsocial-Studie ging man davon aus, dass der steigende Bedarf an Fachkräften durch Nachwuchs aus den Hochschulen und aus Zuwanderung gedeckt werden könnte. In der Tat gibt es heute mehr Nachwuchs. Beim Zusammenschluss der ZHAW im Jahr 2008 zählte das Departement Soziale Arbeit 589 Studierende, heute sind 968 immatrikuliert. Und die Zahl der Absolvent:innen ist von 99 auf über 200 pro Studienjahr gestiegen.
«Mitarbeitende sollten die Möglichkeit haben, das dritte Mandat wahrzunehmen .»
Daniela Wirz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der ZHAW Soziale Arbeit und leitet die Fachstelle Kooperationen und Vernetzung.
Der Nachwuchs ist also da. Aber warum bleibt er nicht im Berufsfeld?
Lucrezia Bernetta: Die Einarbeitungszeit ist ein grosses Thema. Sie ist zu kurz, es kommt zur Überforderung. Der Unterschied zwischen dem, wie Soziale Arbeit im Studium gelernt wird, und dem, wie sie in der Praxis gelebt wird, ist teilweise gross.
Regula Enderlin: Auch ich höre, dass junge Sozialarbeitende zu wenig auf die Arbeit mit unseren sehr herausfordernden Kindern und Jugendlichen vorbereitet sind. Um den Einstieg in dieses schwierige Feld zu begleiten, läuft derzeit ein Projekt, das vom zuständigen Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich finanziell gefördert wird. Hier werden Berufseinsteigende beim Start im stationären Kontext mit einem Ausbildungsprogramm in Form eines Studienhandbuchs unterstützt. Als leistungserbringende Stiftung begrüssen wir diese Anstrengungen sehr. Man darf nicht warten, bis Berufseinsteigende verzweifeln.
Liegt die Überforderung am jungen Alter oder an der Ausbildung?
Daniela Wirz: Ganz so einfach lässt sich die Situation nicht erklären. In der 2021 zuletzt durchgeführten Absolvent:innen-Studie des Bundesamts für Statistik gaben die Befragten an, sich durch den Bachelorabschluss an der ZHAW grundsätzlich gut auf den Berufseinstieg vorbereitet zu fühlen. Dennoch kam an den zwei Runden Tischen zum Fachkräftemangel im Sozialbereich, die das Departement Soziale Arbeit dieses Jahr mit Vertreter:innen der Zürcher Sozialarbeitspraxis und der öffentlichen Verwaltung durchführte, das Phänomen des Praxisschocks von Berufseinsteigenden auf. Als Fachhochschule wollen wir neben einer fundierten theoretischen Ausbildung natürlich auch dazu beitragen, diesen Praxisschock durch die Vermittlung von realistischen Bildern über die Praxis und die Herausforderungen und Besonderheiten einzelner Handlungsfelder abzufedern.
Der Praxisanteil eines Bachelorstudiums an der ZHAW ist mit 1500 Stunden schon ziemlich hoch.
Daniela Wirz: Ja, und die Praxisausbildung ist eine wichtige, aber nicht die einzige Möglichkeit, Realitätsbezug herzustellen. Ab Herbst bieten wir beispielsweise neu die Möglichkeit an, dass Bachelorstudierende sich ein zivilgesellschaftliches Engagement oder die Mitarbeit in einem Projekt mit Bezug zu Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit in Form von ECTS-Credits anrechnen lassen können. Damit wollen wir ein zusätzliches Fenster zur Praxis öffnen.
Was sind weitere Gründe für die Abwanderung aus dem Berufsfeld?
Lucrezia Bernetta: Oft ist es eine Mischung aus unbefriedigenden Arbeitsbedingungen und persönlichen Motiven. Am häufigsten genannt werden der Wunsch nach beruflicher Entwicklung, Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung, fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte, psychische Belastung im Job, zu tiefer Lohn. Was den stationären Bereich angeht, so hören wir beim Fachverband AvenirSocial immer wieder, dass Arbeitnehmende trotz Teilzeitanstellung bis zu sechs oder sogar sieben Tage am Stück arbeiten müssen; das ist belastend und nicht familienfreundlich. Und manchmal wird Pikettdienst nicht entlöhnt.
« Immer wieder wird bemängelt, dass in vielen Organisationen alle in etwa denselben Job zum selben Lohn machen, dies unabhängig vom Abschluss, sei das nun Fachhochschule oder Höhere Fachschule, Bachelor oder Master.»
Lucrezia Bernetta ist in der Sozialpädagogischen Familienarbeit tätig. Sie gehört zur Regionalleitung Zürich/Schaffhausen des Berufsverbands AvenirSocial und vertritt die SP in der Sozialbehörde der Stadt Zürich.
Regula Enderlin: Ich finde den Ansatz vielversprechend, neue Arbeitszeitmodelle einzuführen. Bei Schicht ist vor allem der Wechsel problematisch. Wie im Spital könnten auch stationäre sozialpädagogische Einrichtungen Jobprofile erstellen, bei denen man nur Nachtschicht macht – oder eben keine. Wir prüfen derzeit ein solches Projekt. Eine allgemeine Erhöhung des Lohnniveaus scheint mir nicht zwingend die Lösung für den Fachkräftemangel zu sein. Er betrifft schliesslich auch Branchen, in denen die Löhne höher sind. Aber was die Abgeltung von Nacht- und Wochenendschichten angeht, muss etwas getan werden. Sie ist zu tief.
Wie im medizinischen Bereich ächzen auch im Sozialwesen viele unter der Dokumentationspflicht.
Regula Enderlin: Vieles, was nicht im direkten Klient:innen-Kontakt stattfindet, gilt als Administration. Aber das muss man differenzierter anschauen. Teamsitzungen sind unabdingbar, ebenso die Falldokumentation für eine saubere Übergabe innerhalb des Betreuungsteams und die Förderplanung als Reflexionsraum. Im Betrieb, den ich früher leitete, investierte ich viel, damit für das Erstellen der Berichte möglichst wenig Zeit beansprucht wurde. Sie purzelten mehr oder weniger aus den Standortbestimmungen und Förderplandokumenten heraus.
Lucrezia Bernetta: Das ist leider vielerorts nicht der Fall, oft dauert es eine Stunde oder länger pro Bericht.
Regula Enderlin: Wenn man mit der Förderplanung arbeitet und gut dokumentiert, an welchen Zielen wie gearbeitet wird und ob die Ziele erreicht wurden, dann sind die Berichte meines Erachtens schon fast geschrieben. Aber wenn ich höre, dass mit dem Schreiben von Berichten eine Wertschätzung gegenüber den Klient:innen ausgedrückt werden soll, läuft etwas schief. Berichte dürfen nicht zum Selbstzweck geschrieben werden. Die Wertschätzung muss viel früher mitgedacht werden, nämlich bei der Förderplanung und bei den Standortbestimmungen.
Und was müsste getan werden, damit der Wunsch nach beruflicher Entwicklung erfüllt werden kann?
Lucrezia Bernetta: Immer wieder wird bemängelt, dass in vielen Organisationen alle in etwa denselben Job zum selben Lohn machen, dies unabhängig vom Abschluss, sei das nun Fachhochschule oder Höhere Fachschule, Bachelor oder Master.
Daniela Wirz: Hier könnte man nochmals den Vergleich mit dem Gesundheitsbereich wagen und einen Skill-Grade-Mix implementieren. Man setzt dann die Teams in Bezug auf Fähigkeiten sowie Berufs- und Lebenserfahrung zusammen. Mit unterschiedlichen Verantwortungs- und Tätigkeitsbereichen ist auch eine unterschiedliche Entlöhnung naheliegend – und die Chance, sich zu entwickeln, allenfalls Karriere zu machen.
Regula Enderlin: Ich bezweifle, dass die Fachkarriere das Problem des Fachkräftemangels löst.
Warum?
Regula Enderlin: Weil sie die Zufriedenheit der Hochqualifizierten nicht steigert. Die Arbeit selbst wird dadurch nicht attraktiver, man hat nicht auf einmal mehr Zeit für die Klient:innen. Das sieht man in den Spitälern, wo das gemacht wird. Es ist viel wichtiger, dass die Mitarbeitenden sich durch Weiterbildungen für die immer anspruchsvoller werdenden Aufgaben besser qualifizieren können, damit sie gesund bleiben und nicht ausbrennen und kündigen. Ihre Gesundheit ist ein hohes Gut.
Ist wegen dieser Art der Belastung die Fluktuation im stationären Bereich besonders hoch?
Regula Enderlin: Wir haben keine statistische Gewissheit, dass dem wirklich so ist. Sicher ist aber, dass die Belastung steigt, etwa wegen der zunehmend komplexeren Biografien von Kindern und Jugendlichen durch Traumatisierungen und Bindungsstörungen. Wir stellen auch mehr grenzverletzendes Verhalten fest. Immer weniger Fachpersonen wollen sich das antun. Andere gehen, weil sie wegen Unterbesetzung überlastet oder unbefriedigt sind, da sie zu wenig Zeit für die Beziehungsarbeit mit den Klient:innen haben. In einer solchen Situation müssen Organisationen die harte Entscheidung fällen, ob sie ihre Mitarbeitenden schützen und behalten wollen – oder die Zahl der angebotenen Plätze reduzieren, dies mit der Folge, dass Kinder und Jugendliche auf der Strecke bleiben.
Was kann man dagegen tun?
Regula Enderlin: Abgesehen von neuen Arbeitszeitmodellen und Investitionen in die Weiterbildungen braucht es genügend Fallsupervisionen und Teamintervisionen. Seit man über den Fachkräftemangel spricht, hat sich hier etwas in Bewegung gesetzt. Das finde ich positiv.
Lucrezia Bernetta: AvenirSocial hat vor Kurzem Best-Practice-Beispiele gesammelt, wie man die Arbeitsbedingungen verbessern und die Zufriedenheit steigern könnte. Es handelt sich um Massnahmen, die keine grossen politischen Veränderungen voraussetzen, sondern von Führungspersonen relativ schnell umgesetzt werden können. Zum Beispiel, berufspolitisches Engagement zu ermöglichen oder Teamzeit so zu gestalten, dass Mitarbeitende ohne Führungsfunktion Verantwortung übernehmen können.
Regula Enderlin: Berufspolitisches Engagement und Lobby-
arbeit sind wichtig. Denn der Fachkräftemangel ist nicht einfach ein Problem der Sozialen Arbeit, sondern der gesamten Gesellschaft.
Daniela Wirz: Als Expertin im Zulassungsverfahren für das Bachelorstudium höre ich in jüngster Zeit vermehrt, dass das Mitgestalten und das Weiterentwickeln von Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit auch Teil der Motivation sind. Dieses dritte Mandat, also der Bezug auf die eigene Fachlichkeit als Profession, ist eine wertvolle und wichtige Voraussetzung unter anderem für politisches Engagement. Organisationen sollten es Mitarbeitenden ermöglichen oder sie dabei fördern, das dritte Mandat wahrzunehmen.
Lucrezia Bernetta: In vielen Organisationen und Institutionen kommen die Führungspersonen nicht aus der Sozialen Arbeit, weshalb sie das Triplemandat oftmals nicht auf dem Radar haben. Es ist deshalb wichtig, dass in Leitungspositionen auch Fachpersonen aus der Sozialen Arbeit sind.
Regula Enderlin: In der Sozialraumorientierung geht es darum, die Angebote entlang dem Willen der Klient:innen – im Sinne des inneren Antriebs – zu machen. In der Praxis stelle ich aber fest, dass Fachleute immer noch häufig davon ausgehen, dass sie wissen, was als nächster Schritt angesagt ist. Dass man das reflektiert und aus dieser Haltung herauskommt, das wäre für mich wichtig im Triplemandat. Nicht nur berufspolitisches Engagement, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung damit, was Soziale Arbeit in der Gesellschaft macht. Diese Reflexionsprozesse müssen in den Institutionen passieren, angestossen oder zumindest unterstützt von Führungspersonen.
Daniela Wirz: Ich finde beide Aussagen wichtig und richtig. Und sie unterstreichen die Relevanz und die Sinnhaftigkeit eines konsekutiven Masters in Sozialer Arbeit. In unserem Fall qualifiziert er die Absolvent:innen je nach gewählter Profilrichtung genau für die kritische Reflexion und die Bearbeitung komplexer Fragestellungen, dies sowohl für Personen mit als auch für Personen ohne Führungs- oder Fachverantwortung.
Gibt es auch strukturelle Massnahmen, die sich rascher umsetzen lassen?
Daniela Wirz: Nicht ganz schnell, aber doch schneller als ein sozialpolitischer Wandel, ist die Einbindung von Quereinsteiger:innen. Wir kennen die konkrete Zielgruppe noch nicht, können aber einmal breit an Zugewanderte, an Menschen mit Qualifikationen in einem anderen Bereich, Freiwillige, Pensionierte oder eben auch Konzepte von Service User Involvement denken. Es gibt viele interessante Ansätze und es ist wichtig, dass wir sie gut und bald prüfen, um diese Personen für die Arbeit in der Praxis zu qualifizieren.
Veranstaltung zum Fachkräftemangel in Sozialer Arbeit
Haben Sie Erfahrung mit Fachkräftemangel in Ihrer sozialen Organisation?
Bei der Veranstaltung vom 5. Dezember 2023 beschäftigen wir uns mit folgenden Fragen:
- Welche Faktoren tragen zum Fachkräftemangel bei, und wie können wir ihnen entgegentreten?
- Welche kreativen Ansätze und bewährten Praktiken gibt es, um Fachkräfte für die Soziale Arbeit zu gewinnen und im Berufsfeld zu halten?
- Wie können Bildungsinsitutionen, Praxispartner:innen und Behörden für eine Lösung zusammenspannen?
Wir sind gespannt auf Ihre Analyse des Fachkräftemangels und Ihre Ideen, diesen zu entschärfen.