Welche Trends beschäftigen das Sozialwesen am meisten?
Dank der neuen Plattform Zürich Sozial lassen sich gesellschaftliche Trends früh erkennen und gemeinsam anpacken. Eine Umfrage zeigte, welche Themen die Sozialarbeitenden am stärksten beschäftigen.
Von Sergio Gemperle und Fiona Gisler
Im vergangenen Jahr hat die Teuerung weiter zugenommen, wenn auch weniger stark als im Vorjahr. Im September stand der Landesindex der Konsumentenpreise um 1,7 Prozent höher als im entsprechenden Vorjahresmonat. Auf Anfang Dezember stieg zudem der mietrechtliche Referenzzinssatz zum zweiten Mal und drohte, die bereits angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt nochmal deutlich zu verschärfen. Und zwar so sehr, dass sich der Bundesrat gezwungen sah, auf die akute Problematik der steigenden Mieten zu reagieren und gezielte Massnahmen dagegen zu beschliessen.
Gerade Organisationen aus dem Sozialwesen erleben, dass Entwicklungen wie steigende Konsumgüterpreise oder Mieten für ihre Adressat:innen eine grosse Herausforderung darstellen können. Wie Seismografen nehmen ihre Mitarbeitenden in ihrer täglichen Arbeit wahr, wenn ihr Handlungsfeld durch kritische Entwicklungen und Einflüsse mehr oder weniger stark erschüttert wird.
Themenbasierte Vernetzung
In der Folge experimentieren sie mit Strategien und entwickeln Handlungsansätze. Solange diese aber isoliert umgesetzt werden, bleibt ihre Reichweite limitiert und ihr Potenzial kann sich nicht für weitere Organisationen und über verschiedene Handlungsfelder des Sozialbereichs entfalten. Ferner wird aus gescheiterten Ansätzen nicht gelernt, wenn das Wissen darüber nicht geteilt wird.
Hier setzt Zürich Sozial an. Ziel dieses Kooperationsprojekts, das die in den 1970er-Jahren gegründete «Infostelle» ablöst, ist es, den Zürcher Sozialbereich themenbasiert zu vernetzen. Es fördert den fachlichen Diskurs und den Informationstransfer zwischen Personen, Organisationen und amtlichen Stellen mittels einer Online-Plattform. Die Vision ist, dass soziale Organisationen nicht nur voneinander, sondern auch miteinander lernen, sodass dadurch ein Sozialbereich entsteht, der resilienter und innovativer ist.
Am häufigsten genannt: Wohnungsmarkt
Im Zentrum der Plattformaktivitäten stehen grosse Trends und Entwicklungen, die das Sozialwesen heute und zukünftig beschäftigen. Zunächst stellt sich die Frage, um welche Trends es sich handelt. Um das zu eruieren, wurde Zürich Sozial im vergangenen Herbst mit einer breit angelegten Trendumfrage unter allen Organisationen aus dem Sozialwesen des Kantons Zürich lanciert.
Die Umfrageteilnehmenden sollten Auskunft darüber geben, welche Entwicklungen oder Trends sie in ihren jeweiligen Handlungsfeldern des Zürcher Sozialwesens beobachten. Die rund 250 Teilnehmenden haben insgesamt 781 verschiedene Themen als Trends vorgeschlagen. Ein Team des Instituts für Sozialmanagement hat sämtliche Vorschläge analysiert und, wo möglich, in übergeordneten Kategorien zusammengefasst.
Daraus resultierten 70 Kategorien von Trends, die auf ein oder mehrere Handlungsfelder zutreffen. Am häufigsten genannt wurde die eingangs geschilderte verschärfte Lage im Wohnungsmarkt. Hier konkurrenzieren sich Handlungsfelder wie Asylbereich und Sozialhilfe gegenseitig.
Zu den Top-Trends zählen ausserdem die allgemein schwierige Finanzierungslage vieler Organisationen sowie die zunehmenden Herausforderungen im Asylwesen. Des Weiteren gehören die mittlerweile in der breiten Öffentlichkeit bekannten Themen des Fachkräftemangels und der Chancen und Risiken der beschleunigten Digitalisierung zu den fünf meistgenannten Trends.
Digitalisierung entlastet Betrieb
Die drei letztgenannten Trends – Asylwesen, Fachkräftemangel und Digitalisierung – gehören ausserdem zu einer Gruppe von sechs Trendbereichen. Diese wurden in einer vorangehenden Literaturstudie identifiziert und umfassten zudem eine sich verschärfende soziale Ungleichheit, wachsende Unsicherheit sowie Selbstbestimmung und Klient:innenorientierung.
In der Umfrage schätzten die Teilnehmenden deren Relevanz für den Sozialbereich des Kantons Zürich separat ein. All diese Trendbereiche wurden mit einer Zustimmung zwischen 60 und 80 Prozent als eher relevant oder hoch relevant eingestuft.
Nuancen ergaben sich allerdings, wenn detailliertere Fragen gestellt wurden. So wurde beispielsweise die zunehmende Digitalisierung des Sozialbereichs zwar als Chance wahrgenommen, dies jedoch vor allem im Sinne einer Entlastung bei betrieblich-administrativen Aufgaben und weniger bezüglich erweiterten Interaktionsmöglichkeiten mit den Adressat:innen.
Trend-Monitor 2024
In anschliessend durchgeführten Fokusgruppeninterviews priorisierten die Fachpersonen an erster Stelle den Trendbereich der zunehmenden sozialen Ungleichheit, gefolgt vom Fachkräftemangel und dem Migrations-/Asylwesen. Dabei hat sich bestätigt, dass Sozialarbeitende frühzeitig Entwicklungen wahrnehmen, welche ihre Klient:innen beeinflussen. Gerade Lücken in der Versorgungslandschaft oder die effektive Umsetzung von neuen Vorgaben erfassen sie schnell.
Diese Erkenntnisse fliessen nun in den Trend-Monitor 2024 ein. Der Trend-Monitor basiert auf dem Austausch zwischen Akteur:innen aus dem Sozialwesen des Kantons Zürich mithilfe eines eigens dafür entwickelten digitalen Beteiligungsformats, mit dem kollektiv Inhalte erstellt werden können.
Im Trend-Monitor können die Teilnehmenden die wichtigsten Trends aus der Umfrage tiefergehend diskutieren, umformulieren oder auf ihr Handlungsfeld adaptieren sowie eigene neue Trends eingeben, die sie beschäftigen. Das Resultat ist ein Überblick über die aktuellen Trends im gesamten Sozialbereich unter Berücksichtigung der zahlreichen Handlungsfelder.
Austausch im Herbst 2024
Die Ergebnisse des Trend-Monitors bestimmen die Inhalte der Trend-Spotlights. Mit diesen wird der thematisch-fachliche Austausch gefördert, indem die wichtigsten Brennpunkte über thematische Dossiers mit verschiedenen Angeboten wie beispielsweise Expertenchats vertieft werden.
Zum Abschluss des sich jährlich wiederholenden Zyklus von Trend-Monitor und Trend-Spotlights findet im Herbst 2024 das erste Reallabor statt: eine Veranstaltung, bei der Beteiligte aus Praxisorganisationen, aus kantonalen und kommunalen Behörden sowie der Hochschule mögliche Handlungsansätze zu den wichtigsten Trends entwerfen werden.