Wie erreicht man ältere Migranten?
Die Generation der «Gastarbeitenden» kommt ins Rentenalter – und ist transnational vernetzt. Ein neuer Ansatz versucht, den Begriff «Integration» neu zu denken.
Sie kamen in die Schweiz als «Gastarbeitende» zu einer Zeit, als «Integration» noch kein Thema war, weder für die Zugewanderten noch für die Schweizer Bevölkerung. Heute sind die aus Italien, Spanien und dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Menschen ins Rentenalter gekommen. Ein Rentner mit italienischen Wurzeln erinnert sich: «Ich kam in die Schweiz, weil ich ein Motorrad kaufen wollte. Dann hat das Motorrad mich gekauft.» Der Anteil der älteren Migrantinnen und Migranten an der älteren Gesamtbevölkerung wächst. Gegen 270‘000 Menschen mit Migrationshintergrund der ersten Generation sind heute im Alter von 65 und älter. Nicht wenige von ihnen tun sich auch nach all den Jahren nicht leicht in ihrem Aufnahmeland: Sprachschwierigkeiten, soziale Isolation, wenig Kenntnisse über die hiesigen Organisationen im Alters- und Migrationsbereich.
Angebote der Gemeinden müssen sich öffnen
Das ZHAW-Projekt «Vicino» in Zusammenarbeit mit Pro Senectute Kanton Zürich und Pro Senectute Aargau sollte Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen. «Es ging vor allem um Nachbarschaftskontakte und Vernetzung im Quartier», sagt ZHAW-Projektleiterin Sylvie Johner-Kobi. Die zentrale Forschungsfrage lautete: Mit welchen partizipativen Methoden können bestehende soziale Netze älterer Migranten am Wohnort gestärkt und der Kontakt zu den hiesigen Gemeinde- und Quartierstrukturen verbessert werden? Ergebnisse der Untersuchung: «Nationalitäten- und sprachspezische Netzwerke haben eine grosse Bedeutung, insbesondere für Personen mit wenig Deutschkenntnissen», sagt Sylvie Johner-Kobi vom ZHAW-Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe. Solche Organisationen würden zahlreiche Aufgaben übernehmen, wie das Organisieren von Treffpunkten. Sie spielten auch bei der Betreuung und Beratung eine zentrale Rolle. Das Forschungsteam entwickelte einen Leitfaden. Mit diesem können Fachleute aus dem Alters- und Migrationsbereich in den Quartieren und Gemeinden ermitteln, wo Lücken bestehen und wie sie geschlossen werden können. Bei der Entwicklung des Leitfadens wirkte auch Roland Guntern von Pro Senectute Aargau mit. «Der Leitfaden wurde als praktische Anweisung gut aufgenommen», bilanziert er. Geschätzt wurden auch die zusätzlichen Hilfsmittel wie Checklisten für den Aufbau neuer Angebote.
«Integration» neu denken
Das Projekt «Vicino» zeigte auch, dass ältere Migranten sich in transnationalen Räumen bewegen. Häufig pendeln sie zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. Einzelne Personen sind bis zu sechs Monate pro Jahr in ihrem Herkunftsland. «Aufgrund der häufigen Ortsabwesenheit können die Angebote im Alters- und Migrationsbereich wenig oder nur punktuell genutzt werden», konstatiert Sylvie Johner-Kobi. Nicht nur das macht die Migrationsarbeit herausfordernd. In der Praxis zeigt sich laut Christiane von Kloeden von Pro Senectute Kanton Zürich, dass es lange dauert, Netzwerke aufzubauen und Zugang zu Schlüsselpersonen zu knüpfen. Dem Aspekt der Transnationalität kommt eine grosse Bedeutung zu. So entstand jetzt ein Fortsetzungsprojekt namens «Integration in der Sozialen Arbeit neu denken», am Beispiel transnationaler Lebensräume und Unterstützungsnetzwerke älterer Migrantinnen und Migranten. Ziel des Projektes ist es, Grundlagen für die Soziale Arbeit zu schaffen, die die Transnationalität und ihre Konsequenzen berücksichtigen. Das heisst: Bestehende Integrationsverständnisse sollen reflektiert werden, so dass Konzepte und Interventionen angepasst werden können. Im Fokus stehen erneut ältere Migranten, führt die Wissenschaftlerin aus: «Uns schien, dass wir die Frage der Integration und Transnationalität sehr gut am Beispiel der älteren Migrantinnen und Migranten diskutieren könnten.»
Autor: Stefan Müller
Hochschulmagazin ZHAW-Impact
«Gesellschaftliche Integration» lautet das Dossierthema der Juni-Ausgabe des Hochschulmagazins ZHAW-Impact.Eine Auswahl der Themen: Welche Karrieremöglichkeiten bieten Unternehmen für Mitarbeitende 49+? Wie fair sind Sozialversicherungen in der Schweiz? Welche Wechselwirkung besteht zwischen der Gestaltung von Räumen und menschlichem Verhalten? Wie kann man ältere Migrantinnen und Migranten aber auch junge Secondos unterstützen? Wenn immer mehr junge Menschen unter psychischen Erkrankungen leiden, wie kann man Früherkennung und Therapie fördern? Zudem lesen Sie Porträts über Menschen, die sich für den Wissenstransfer mit Namibia, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, hindernisfreie Kommunikation, ethische Managementausbildung und mehr Frauen in MINT-Fächern engagieren.
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