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Soziale Arbeit

Wie wär’s mit einer Art Tinder für Soziale Dienste?

Adressat:innen Sozialer Arbeit verfügen über einzigartiges Erfahrungswissen. Wie lässt sich das in der Ausbildung von Sozialarbeitenden nutzen? Erkenntnisse aus drei Seminaren.

Die Kommunikation soll gleichberechtigt sein: Modell aus einem ZHAW-Seminar. (Bild: Michael Herzig)

Von Michael Herzig und Gisela Meier

Was in Grossbritannien selbstverständlich ist, erscheint uns in der Schweiz noch sehr fremd: Klient:innen Sozialer Arbeit als Expert:innen zu sehen. Die Idee dahinter: Sie haben ein einzigartiges Erfahrungswissen, das für angehende Sozialarbeitende wertvoll ist. Es ist deshalb ein Gewinn, sie in die Ausbildung der Sozialarbeitenden miteinzubeziehen. Genannt wird dieses Konzept «Service User Involvement» (SUI).

Um herauszufinden, wie Service User Involvement konkret aussehen könnte, wurden zwischen Herbst 2022 und Frühling 2023 an der ZHAW Soziale Arbeit drei Seminare durchgeführt. Dabei kamen Studierende, User:innen und Praxisvertretende zusammen. Getönt hat das zum Beispiel so: «Entweder hast du Glück oder Pech mit deinem Sozi.» Es ist die Aussage einer Sozialhilfeempfängerin, die weiter sagte, dass sie momentan zufrieden sei mit ihrer fallführenden Person in der wirtschaftlichen Sozialhilfe – es aber auch schon anders gewesen sei.

Die anderen Expert:innen mit Erfahrung als Klient:innen Sozialer Arbeit nickten. Die anwesenden Sozialarbeitenden und Bachelor-Studierenden wiederum nahmen die Aussage der Sozialhilfebezügerin gleich zum Anlass, mögliche Ursachen solcher Erfahrungen zu diskutieren. Zur Sprache kamen dabei etwa Machtunterschiede, Bürokratie, politische Erwartungen und organisationale Zwänge. In der Folge arbeiteten Studierende, Sozialarbeitende und Klient:innen gemeinsam an möglichen Lösungen dieses und anderer Probleme.  

Eine Idee lautete, von Kindern zu lernen. Diese, so die Annahme, können unbeschwerter als Erwachsene neue Beziehungen knüpfen. Die Erkenntnisse daraus sollten genutzt werden, um den Beziehungsaufbau in der Sozialberatung zu erleichtern. Eine andere Gruppe schlug eine Art Tinder für Soziale Dienste vor. Was bedeuten würde, dass sich Sozialhilfebezüger:innen ihre Fallführenden aussuchen können, anstatt zugeteilt zu werden. Und zwar ganz simpel mit einer Smartphone-App.

Anders als beim richtigen Tinder hätte allerdings nur eine Seite eine Wischfunktion – und zwar die Seite der Klient:innen. Die Seminare zeigten es ganz praktisch: Das Know-how der Adressat:innen ist einzigartig. Nur sie können sagen, wie sich Gesprächsführungstechniken auf der anderen Seite des Beratungsverhältnisses anfühlen oder wie bürokratische Prozesse Ohnmachtsgefühle auslösen können. Das Wissen lässt sich nutzen. Voraussetzung dafür ist, dass es als eine Form von Expertise anerkannt wird.

Vielfältige Möglichkeiten

Derzeit ist es so, dass Sozialarbeitende in Ausbildung häufig bloss im Rahmen der obligatorischen Praktika auf Klient:innen treffen. Den Abbau von möglichen gegenseitigen Ängsten, Missverständnissen und Vorurteilen unterstützt das allerdings nur bedingt. Service User Involvement in der Ausbildung soll daher auch dazu beitragen, dass Sozialarbeitende ihre Adressat:innen möglichst früh als gleichberechtigte Co-Partner:innen erleben. 

Ziel der drei Seminare war es, Ideen für zukünftige Unterrichtsformen zu entwickeln, in denen Adressat:innen Sozialer Arbeit ihr Erfahrungswissen gleichberechtigt weitergeben können. Ausgehend von den Bedürfnissen von User:innen und Studierenden wurden deshalb Kreativtechniken eingesetzt, um Ideen für den Unterricht zu entwickeln, mit deren Umsetzung das Bachelorstudium stärker an den Bedürfnissen sowohl von Studierenden als auch von User:innen ausgerichtet würde. In der Lehre sind viele Formen von User Involvement denkbar. Das reicht von gegenseitigem Erfahrungsaustausch bis zum Einbezug von User:innen in die Beurteilung studentischer Leistungsnachweise.

Finanzielle Herausforderungen

Dazwischen gibt es viele kreative Ideen, wie sie unter anderem in den drei Seminaren entwickelt worden sind. So haben einige Arbeitsgruppen eine Art Ausbildungsbetrieb unter dem Dach der ZHAW angeregt. Damit sind Beratungsangebote, teilweise auch Beratungsräume gemeint, in denen Studierende Praxiserfahrung sammeln könnten und dabei nicht nur von Lehrpersonen betreut und gecoacht würden, sondern eben auch von User:innen. Immer wieder aufgegriffen wurde auch die Ausbildung in Gesprächsführung. Studierende bemängelten, im Rahmen des Studiums wenig üben zu können. Adressat:innen wiederum berichteten von stigmatisierenden oder abwertenden Gesprächen in der Praxis. Daraus entstanden diverse Ideen für Gesprächsführungstrainings bereits in einer frühen Phase des Studiums, sowohl in Online-Settings als auch im Kontaktunterricht.

Und dann ist da noch das Thema Geld. Auch an der Entlöhnung zeigt sich, ob ein Verhältnis auf Augenhöhe ist. Werden User:innen in der Lehre als Expert:innen angesehen, brauchen sie auch das gleiche Honorar wie andere externe Dozierende. Die Finanzierung allerdings wird auch international als häufigste Hürde genannt, um User:innen als Expert:innen einzubeziehen. Darum wurden die drei Lehrveranstaltungen an der ZHAW aus einem Projektkredit finanziert. Reguläre Modul- oder Seminarbudgets erlauben keinen so umfassenden Personaleinsatz. Falls also Adressat:innen Sozialer Arbeit in Zukunft systematisch in der Bachelorausbildung unterrichten sollen, ist eine Änderung der Rahmenbedingungen unumgänglich.

Grosses Interesse der Lehrpersonen

Eine interne Umfrage am De­partement Soziale Arbeit der ZHAW zeigte: Die befragten Lehrpersonen begrüssen zwar den systematischen Einbezug des Erfahrungswissens von Adressat:innen, ordnen ihm aber unterschiedlichen Stellenwert bei. Manche befürworten eine gleichwertige Gewichtung von Erfahrungswissen und wissenschaftlichem Wissen, andere sehen es eher als Ergänzung. Dieser unterschiedlichen Haltung begegnet man auch im internationalen Hochschulraum und sie bedarf der kritischen Auseinandersetzung. 

Das Projekt wurde im August abgeschlossen und konnte wichtige Bedürfnisse aller Beteiligten aufzeigen. In einem nächsten Schritt werden nun Empfehlungen formuliert, wie Service User Involvement in die Lehre integriert werden könnte.