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Soziale Arbeit

«Wir sollten unsere Vorurteile hinterfragen, bevor wir mit dem Finger auf das Sexgewerbe zeigen»

Das Prostitutionsverbot in der Corona-Pandemie erhöhte das Ausbeutungsrisiko für Sexarbeitende. Dies zeigt eine Studie der ZHAW. Werden Massnahmen für das Milieu erlassen, sollten die Betroffenen miteinbezogen werden, sagt Studienleiter Michael Herzig.

Interview: Regula Freuler

Wie hat sich die Covid-19-Pandemie auf die Sexarbeit ausgewirkt?

Michael Herzig: Wegen der Bedrohung durch das Virus sank die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen. Vor allem ältere sowie andere Männer mit erhöhter Vulnerabilität blieben weg.

Hat dies das Verhalten der restlichen Kunden verändert?

Ja, sie waren nun am längeren Hebel. In unseren Befragungen hörten wir durchgängig, dass die Kunden die Preise drücken und Praktiken durchsetzen, welche die Sexarbeitenden vorher abgelehnt hätten. Diese mussten nun mehr arbeiten und höhere Risiken in Kauf nehmen, wenn sie keine alternativen Einkommensquellen hatten, vor allem während des Arbeitsverbots.

«Für die Fachpersonen und die Sexarbeitenden war es unglaublich schwierig herauszufinden, welche Regeln zu welchem Zeitpunkt galten und wie sie umgesetzt wurden.»

Michael Herzig, ZHAW-Dozent

Ist das Einhalten von Corona-Massnahmen wie Abstandhalten oder das Tragen einer Maske im Berufsalltag von Sexarbeitenden praktikabel?

Eine oft gestellte Frage. Sie ist leider Teil des Problems und nicht der Lösung. Warum sollten Sexarbeitende die Schutzmassnahmen weniger durchsetzen können als Masseurinnen, Coiffeure, Visagisten, Zahnärztinnen oder Dentalhygieniker? Das sind alles Berufe, bei denen man eine gewisse Zeit im selben Raum verbringt und sich dabei berührt. Die meisten Sexualpraktiken sind auch mit Maske möglich. Zudem dauert eine Dienstleistung meistens viel weniger lang als beispielsweise eine Massage oder ein Dentalhygiene. Warum tun wir dennoch so, als ob nur Sexarbeitende das Covid-Übertragungsrisiko für die Gesamtgesellschaft erhöhen würden? Das sind Menschen, die sich seit Jahrzehnten gegen Syphilis, Tripper und HIV schützen. Wir sollten eher von ihnen lernen, als ihnen Lehren zu erteilen.

Sie wollen sagen: Es geht bei solchen Fragen weniger um die Furcht vor einem Ansteckungsrisiko als um die Moral?

Das liegt doch auf der Hand. Auch in anderen Branchen, wie zum Beispiel im Gastrogewerbe wurden die Schutzmassnahmen nicht vollumfänglich umgesetzt, weil der wirtschaftliche Druck gross war. Im öffentlichen Verkehr wird das Maskentragen nicht konsequent durchgesetzt. Wir sollten darum unsere eigenen Vorurteile hinterfragen, bevor wir mit dem Finger auf das Sexgewerbe zeigen.

Wie haben sich die Sexarbeitenden während des über sechsmonatigen Prostitutionsverbots im Kanton Zürich durchgeschlagen?

Wer die Möglichkeit hatte, verdiente auf andere Weise Geld, beispielsweise im Erstberuf. Manche Sexarbeitende sind in andere Kantone ausgewichen. Einige hatten Anrecht auf Corona-Nothilfe für selbständig Erwerbstätige. Wer keine anderen Optionen hatte, machte Schulden oder arbeitete auf illegale Weise weiter.

Wie schätzen Sie den Nutzen des Verbots ein?

Insgesamt waren die Massnahmen kaum effektiv, auch wenn wir dies nicht direkt messen können. Vor allem hat es die Lebenslage der Sexarbeitenden verschlechtert. Man hat den ohnehin vorhandenen Druck einfach zusätzlich erhöht.

Welche Hilfsangebote nutzten sie?

Viele bezogen Sach- und Geldhilfen. Ohne die Unterstützung von privaten Fachstellen, Kirchen und staatlichen Nothilfen hätten viele von ihnen Miete, Essen und Kleidung nicht mehr bezahlen können.

Für Ihre Studie haben Sie auch die Medienberichterstattung untersucht. Wie lautet Ihr Fazit?

Die Berichterstattung war differenzierter, als wir erwartet hatten. Es gab ausgewogene und sachliche Beiträge, in denen immer auch wieder Sexarbeiterinnen und -arbeiter zu Wort kamen. Einzig der Polizeieinsatz in der Lugano-Bar an der Langstrasse Ende August 2020 wurde voyeuristisch ausgeschlachtet. Das hatte aber viel mit der Art und Weise der Aktion zu tun. Eine ganze Polizeieinheit in Schutzanzügen fuhr vor – und das in Begleitung der Medien. Wurde zur selben Zeit in einem Fitnessclub oder in einem Schönheitssalon eine Mitarbeiterin positiv auf Corona getestet, passierte nichts dergleichen.

Sie haben auch die politische Diskussion zu Corona und Sexarbeit untersucht. Wie sah diese aus?

Die von uns interviewten Sexarbeitenden empfanden die Art und Weise, wie man im Kantons- und Regierungsrat über sie verhandelte, als respektlos, abwertend und stigmatisierend. Tatsächlich wurde ausschliesslich über sie geredet und nicht mit ihnen. Bei den Debatten im Kantonsrat stellten wir drei Stereotype fest. Das erste war «Sexarbeit als Ausbeutung». Das heisst, man traute den Sexarbeitenden nicht zu, dass sie die Corona-Schutzmassnahmen umsetzen können. Das zweite Stereotyp war «Sexarbeitende sind Superspreader oder ‹Virenschleudern›». Dabei wurden sie als Bedrohung für die Bevölkerung dargestellt. Und das dritte Stereotyp war eine Art epidemiologische Euphemismus, bei der Corona als «Chance zur Eindämmung» des Sexgewerbes gesehen wurde. So formulierten es einige Kantonsrätinnen und -räte.

Was heisst das?

Mit Dämmen schützt man sich gegen Fluten. Wann immer man in der Geschichte Menschengruppen einer Flut zugeordnet hat, aus politischen Motiven bei der roten Flut und aus rassistischen bei der gelben, konnten die Betroffenen nichts Gutes erwarten. Genauso haben dies auch die von uns befragten Sexarbeitenden verstanden.

Wie wurden die Polizei- und Justizeinsätze von Sozialarbeitenden und Sexarbeitenden wahrgenommen?

Die meisten von ihnen erlebten den Vollzug der Massnahmen gegen das Virus im Sexgewerbe, insbesondere des Prostitutionsverbotes, als chaotisch und intransparent. Kantons- und Stadtpolizei koordinierten sich offenbar wenig bis gar nicht. Zum Beispiel stellten wir fest, dass es unterschiedlich hohe Bussen gab, je nachdem, welches Polizeicorps sie ausstellte. Das mag nicht aus bösem Willen geschehen sein, dennoch wirkte es auf Sexarbeitende wie Willkür. Zudem war es für die Fachpersonen und die Sexarbeitenden unglaublich schwierig herauszufinden, welche Regeln zu welchem Zeitpunkt gerade galten und wie sie umgesetzt wurden. Und es gab tatsächlich auch willkürlich wirkende Massnahmen.

Zum Beispiel?

Im September 2020 erhielten EU-Bürgerinnen und -Bürger keine Arbeitsbewilligungen mehr als Sexarbeiterinnen und -arbeiter. Also zu einem Zeitpunkt, als Prostitution noch nicht verboten war. Im Vergleich zu anderen Tätigkeiten mit Körperkontakt und ähnlich hohen Infektionsrisiken ist dies erklärungsbedürftig.

Wie sieht die Lage der Sexarbeitenden im Kanton Zürich jetzt, Mitte Januar 2022, aus?

Die Erwerbssituation ist immer noch prekär. Man spricht immer noch über sie und nicht mit ihnen. Wir haben unsere Studie vor Kurzem in einer Fachkommission Prostitution in der Stadt Zürich vorgestellt. In dieser Fachkommission diskutieren Juristinnen, Polizisten, Ärztinnen und Sozialarbeitende über das Sexgewerbe, aber keine Sexarbeiterin und kein Sexarbeiter. Es wird auch spannend sein zu sehen, ob der Regierungsrat die fünfte Corona-Welle primär als Chance zur Bekämpfung der Prostitution betrachten wird. Man könnte sie auch als Chance nutzen, mit den Betroffenen zu reden und sie in die Ausarbeitung von Massnahmen mit einzubeziehen. Das würde möglicherweise die Wirksamkeit epidemiologischer Massnahmen erhöhen und wäre nicht einfach Prostitutionspolitik mit dem Mittel der Pandemiebekämpfung.

Studie zu Sexarbeit und Corona im Kanton Zürich

Unter der Leitung von Michael Herzig hat ein Forschungsteam des Instituts für Sozialmanagement die Auswirkungen der Corona-Massnahmen zwischen März 2020 und Mai 2021 im Prostitutionsmilieu des Kantons Zürich untersucht. Darüber hinaus wurde ermittelt, welche Lebensbewältigungsstrategien die Sexarbeitenden gegen negative Auswirkungen (Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt etc.) entwickelten. Ebenso gehörte eine Analyse der Medienberichterstattung rund um das Thema «Sexarbeit und Corona» zum Untersuchungsgegenstand.

Das methodische Vorgehen umfasste eine Analyse der themenspezifischen Medienpublikationen, die zwischen März 2020 und Frühjahr 2021 veröffentlicht wurden. Im Anschluss wurden 12 qualitative Interviews mit 14 Fachpersonen geführt. Diese arbeiten bei der Stadtpolizei, bei der Beratungsstelle Flora Dora, bei der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ), bei der Heilsarmee, bei der Beratungsstelle Isla Victoria sowie beim Verein ProCoRe. Dazu kamen elf qualitative Interviews mit Sexarbeitenden (Frauen, Männer, Trans).

Finanziert wurde die Studie massgeblich von der Stiftung für Soziale Arbeit Zürich. Masterstudentinnen der ZHAW haben ihr Forschungsmentorat im Rahmen dieser Untersuchung absolviert und die Studie dadurch ebenfalls unterstützt.

Studie «Auswirkungen der Massnahmen gegen die Covid-19-Pandemie auf Sexarbeit und Sexarbeitende in Zürich»