Schöner wohnen heisst auch autonom wohnen
Zum guten Altern gehört für die meisten, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Bloss: Wie gelingt das?
Von Uwe Koch und Rahel Strohmeier Navarro Smith
Nehmen wir Margrit Hunkeler und Pedro Rodrigues. Die 83-Jährige spielt noch jeden Tag Klavier und ist sozial gut vernetzt. Vor 30 Jahren erkrankte sie an Parkinson. Sie weiss, dass ihr eine Tanztherapie guttun würde. Bloss leisten kann sie sich diese nicht. Herr Rodrigues ist 77 Jahre alt und sehr selbstständig, doch seine Kinder sorgen sich, dass er zu Hause hinfallen könnte. Ein Alarmknopf würde Sicherheit schaffen. Auch bei ihm ist das Geld knapp. Ins Altersheim wollen beide nicht. Zumindest vorerst nicht.
Diese fiktiven und dennoch sehr realistischen Fälle zeigen: Wie lange jemand in den eigenen vier Wänden bleiben kann, ist auch eine Frage der Finanzen. Therapie und Alarmknopf, ebenso das Sitzbrett in der Dusche, eine Haushaltshilfe oder Unterstützung beim Zahlen der Rechnungen – das alles kostet. Genauso die Entlastung für die Frau, die ihren erkrankten Ehemann zwar gern zu Hause pflegt, aber hin und wieder einen Nachmittag frei braucht, um selbst Kraft zu tanken. Solche Kosten werden im Sozialversicherungssystem heute ungenügend vergütet. Menschen mit wenig Geld haben daher kaum Möglichkeiten, einen Heimeintritt hinauszuzögern oder zu verhindern.
Nachfrage an Unterstützung steigt
Auf kommunaler, kantonaler sowie eidgenössischer Ebene gibt es nun allerdings immer mehr Bestrebungen, diese Lücke zu schliessen. Das ist auch nötig. In der Stadt Zürich lebt 40 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahren allein. Ein weiteres Drittel wohnt mit der Ehepartnerin oder dem Ehepartner zusammen. Die Zahlen zu Heimeintritten sind zwar rückläufig, zunehmend aber diejenigen für häusliche Betreuung und Pflege. Auch die Bedeutung von Tages- oder Ferienaufenthalten in einer Institution zur Entlastung von betreuenden Angehörigen wächst. Die Bereitschaft, sich in der Familie gegenseitig zu unterstützen, ist zwar nach wie vor hoch.
In der Realität wird es aber immer schwieriger, diesen Aufwand auch tatsächlich zu leisten. Zum einen, weil die Familien kleiner geworden sind und die einzelnen Mitglieder nicht mehr unter einem Dach, sondern oftmals in verschiedenen Städten oder gar Ländern leben. Zum anderen, weil immer mehr Frauen berufstätig sind und es eben immer noch Frauen sind, die den Hauptteil der Pflege und der Betreuungsleistung erbringen. Kommt hinzu, dass immer häufiger beide (Ehe-)Partner:innen gleichzeitig fragil werden, was die gegenseitige Unterstützung und Pflege schwieriger macht. Das alles bedeutet: In Privathaushalten wird die Nachfrage nach Unterstützung durch professionelle Dienste wie auch durch Freiwillige in den kommenden Jahren weiter steigen.
Wegweisendes Projekt
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, beschritt die Stadt Luzern 2018 neue Wege: Senior:innen bekommen Gutscheine für selbstbestimmtes Wohnen. Die Stadt erhoffte sich damit, die Lebensqualität und die soziale Vernetzung ihrer älteren Bevölkerung zu steigern. Denn wer dank eines Gutscheins das Rollstuhltaxi bezahlen kann, um einmal in der Woche auswärts Freund:innen zu treffen, fühlt sich besser. Die Gutscheine sollen auch Hilfe im Haushalt oder Anpassungen der Infrastruktur ermöglichen. Nicht zuletzt sollen Angehörige entlastet werden. Mit solch individueller Unterstützung einen Heimeintritt zu verzögern oder zu verhindern, ist aus finanzieller Sicht ganz im Sinn der öffentlichen Hand.
Das Pilotprojekt lief Ende 2022 aus. Das Modell wird nun definitiv eingeführt, obwohl die Evaluierung nicht eindeutig belegt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Gutscheinen und der Verzögerung von Heimeintritten gibt. Sehr wirksam waren die Gutscheine aber nachweislich bei der Entlastung von betreuenden und pflegenden Angehörigen. Gezeigt hat sich auch, dass ältere Personen oftmals zu spät Hilfe und Beratung suchen. Also erst dann, wenn es kaum noch eine Alternative zu einem Heimeintritt gibt. Es ist daher zentral, dass ältere Menschen frühzeitig darüber aufgeklärt werden, welche Möglichkeiten an Unterstützung es gibt.
Wie erfahren Senior:innen vom Angebot?
Das Luzerner Projekt hat bereits Nachahmer:innen gefunden. In der Stadt Bern gibt es seit 2019 sogenannte Betreuungsgutsprachen. In der Stadt Zürich ist in diesem Jahr ebenfalls die Umsetzung eines Pilotprojekts geplant – «städtische Betreuungs- und Hilfsmittelzuschüsse» wird die Unterstützung genannt. Ob mit solch subjektorientiertem Ansatz selbstbestimmtes Altern sichergestellt werden kann, hängt nicht zuletzt von den finanziellen Mitteln und vom Versorgungsangebot der jeweiligen Gemeinde ab. Massgeblich für den Erfolg ist, dass Senior:innen von diesen Leistungen erfahren sowie diese auch tatsächlich beantragen und in Anspruch nehmen.
Insbesondere vulnerable, fragile, allein lebende und von Einsamkeit betroffene Menschen müssen gezielt angesprochen werden. Sehr wichtig ist ausserdem, ältere Menschen und ihre Angehörigen darin zu beraten, welche Leistungsansprüche es gibt und welches das für sie passende Angebot ist. Und: Es sollten auch jene Personen Unterstützung bekommen, die knapp keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben.
Entscheidend ist eine unkomplizierte Abklärung des Bedarfs an Unterstützungsleistungen, die von einer unabhängigen Stelle ermittelt wird. Gelingt es also, die Betroffenen frühzeitig über Unterstützungsangebote aufzuklären, und werden die administrativen und die rechtlichen Hürden niedrig gehalten, haben solche Gutscheine und Gutsprachen grosses Potenzial, älteren Menschen unabhängig von ihrer finanziellen Situation ein selbstbestimmtes Altern in den darauf angepassten eigenen vier Wänden zu ermöglichen.
So könnte sich Pedro Rodrigues einen Alarmknopf und einen Griff in der Dusche montieren lassen, und seine Kinder wären beruhigt. Margrit Hunkeler würde mit dem Gutschein ihre Tanztherapie bezahlen. Nach der Stunde wäre sie vielleicht verschwitzt und erschöpft. Dafür würde sie sich locker und wohl fühlen.
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