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Familienhilfe, aber subito

Wie Forschung direkt in die Praxis einfliessen kann, zeigt ein Projekt der ZHAW mit dem Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich.

Wie lief das Familienleben im Lockdown? Solche und weitere Fragen wurden in der Studie des AJB mit untersucht. (Foto: Maya & Daniele)

von Regula Freuler

Aus der Krise lernen: Mit dem Satz aus der Motivationspsychologie, der seit der Corona-Pandemie besonders strapaziert wird, sind normalerweise rückblickende Analysen gemeint. Aber es geht auch anders, nämlich: Lernen während der Krise. So machte es das Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich (AJB).

Die Schweiz befand sich gerade einmal drei Wochen im Corona-Lockdown, als man beim AJB, das für ausserschulische Bildung und den Kinderschutz im Kanton Zürich zuständig ist, beschloss: Wir wollen nicht erst in ein paar Jahren, sondern so rasch wie möglich erfahren, wie betroffene Familien unsere Unterstützungsangebote erleben. Zumal es sich hier um Mütter, Väter und Kinder handelte, die schon vor der Pandemie besonders belastet waren.

Konkrete Empfehlungen

Und so entstand in Zusammenarbeit mit der ZHAW Soziale Arbeit eine Studie, die nicht nur mitten in einer Phase der Krisenbewältigung durchgeführt wurde, sondern deren Ergebnisse auch umgehend nutzbar gemacht wurden – und zwar sowohl für die Praxisarbeit der regionalen Kinder- und Jugendhilfezentren (kjz) als auch für die zukünftige Strategie des gesamten AJB.

Zu diesem Zweck wurde ein Praxiskommentar erstellt und mit der Fachgruppe, bestehend aus 24 kjz-Vertreter:innen, in Workshops vertieft. Er dient als Impuls für Sozialarbeitende, die in den fünf untersuchten Hilfeformen tätig sind (siehe Kasten), und bringt die handlungsrelevanten Aspekte des fast 200-seitigen Forschungsberichts in wenigen Thesen und konkreten Handlungsempfehlungen auf den Punkt. Auf strategischer Ebene wiederum fliesst die Studie in AJB-Projekte ein, deren Ziel es ist, die bestehenden kjz-Angebote zu überprüfen und allenfalls anzupassen.

Kombiniertes Studiendesign

Wie hat das AJB als auftraggebende Stelle diese Form von Zusammenarbeit mit der ZHAW erlebt und welches sind die wichtigsten Erkenntnisse, die man daraus zieht? «Sehr wichtig war der dialogische Prozess zu Beginn, in dem wir gemeinsam die Fragestellung entwickelten», sagt Matthias Huber, Leiter des Fachbereichs Kinder- und Jugendhilfe und Co-Autor des Praxiskommentars. «So konnten wir von Anfang an Schwerpunkte setzen und auf Handlungsrelevanz fokussieren.»

«In unserer risikoaversen Gesellschaft ist das Sicherheitsbedürfnis so gross, dass kaum jemand wirklich ein Interesse daran hat, in absehbarer Zeit eine Massnahme zu beenden.»

Matthias Huber, Leiter Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe, Amt für Jugend und Berufsberatung Kanton Zürich

Man entschied sich für ein kombiniertes Studiendesign, bestehend aus einem quantitativen und einem qualitativen Teil. Begonnen haben die Studienleiter David Lätsch und Tim Tausendfreund vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie mit Interviews, für die zwischen Oktober 2020 und Juni 2021 Gespräche mit 17 Familien stattfanden. Die schriftliche Befragung erfolgte im Frühjahr 2021. Es gingen Antworten von 571 Eltern und 86 Jugendlichen ein.

Familien weisen hohe Zufriedenheit aus

Bei der Studie «Familiäre Ressourcen in der Krise?» wurden die Familien aber nicht nur zu ihren Erfahrungen mit den Angeboten der kantonalen Kinder- und Jugendhilfe während des Lockdowns befragt. Sie sollten auch eine allgemeine Einschätzung der Angebote machen. Wie die Studie zeigte, wiesen die Rückmeldungen zu den freiwillig in Anspruch genommenen Hilfen wie der Mütter- und Väterberatung, der heilpädagogischen Früherziehung und dem Programm «Zeppelin – Familien startklar» eine hohe Zufriedenheit der Klient:innen mit den Sozialarbeitenden aus.

«Das freut uns, weil es bedeutet, dass die Klient:innen etwas erhalten, das für sie hilfreich ist», sagt Matthias Huber. Was ihm jedoch zu denken gibt: «Wir stellen leider auch fest, dass wir viele Familien nicht erreichen, obwohl sie eine Unterstützung vielleicht benötigen.» Eine Ursache dafür – neben anderen – sieht er in den Beratungszeiten: «Sie sollten flexibler gestaltet sein, sodass auch eine Beratung ausserhalb der üblichen Arbeitszeiten möglich ist.» Die Folgerung sei klar: «Wir werden den Ausbau digitaler Kanäle vorantreiben.»

Es braucht mehr männliche Beistände

Ein Ziel sei es nun, eine sichere Alternative zum verbreiteten, aber aus Datenschutzgründen nicht einsetzbaren Messengerdienst Whatsapp zu suchen, mit welcher eine niederschwellige Kommunikation möglich sei. Auch ein Chat oder Telefonangebot abends und samstags könne eine Lösung sein, sagt Huber und fügt an: «Wir möchten solche Lösungen aber nicht zentral verordnen. Die einzelnen Bezirke sollen ihren Weg experimentell und angemessen an die lokalen Gegebenheiten angehen.»

Zwei weitere Erkenntnisse der Studie, die sich vor allem bei den behördlich angeordneten Erziehungs- und Besuchsrechtsbeistandschaften herauskristallisierten, beschäftigen das AJB besonders. Zum einen bestätigt die Studie, was bisher vor allem anekdotisch aus Medienberichten bekannt ist: Väter fühlen sich benachteiligt, wenn es darum geht, dass eine Beistandsperson das väterliche Besuchsrecht sicherstellen sollte. Und sie fühlen sich weniger ernst genommen als die Mütter.

«Wir bräuchten dringend mehr männliche Mitarbeitende, vor allem bei den Besuchsrechtsbeistandschaften», sagt Matthias Huber. «Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Paar in Trennung zu einer weiblichen Beraterin kommt, ist enorm hoch.» Ideal wäre ein Berater-Duo aus Frau und Mann, zumindest beim Erstgespräch. Dies einzurichten, dürfte schwierig sein: Abgesehen davon, dass viel mehr Frauen Soziale Arbeit studieren als Männer, herrscht ein sich verschärfender Fachkräftemangel.

Ziele bleiben oft diffus

Des Weiteren gibt den AJB-Fachleuten die Studienerkenntnis zu denken, dass die Kinder und Jugendlichen kaum zu wissen scheinen, wofür eine Beistandsperson überhaupt da ist, und dass die Ziele der angeordneten Beistandschaft auch für viele Eltern diffus bleiben. In der Folge wird der Auftrag nicht handlungsrelevant. Das heisst, Eltern und Kinder wissen eigentlich gar nicht so recht, was sich ändern muss, damit die Beistandschaft aufgehoben werden kann.

Das sei paradox, findet Huber: «Der Auftrag der Kesb muss klar formuliert sein, so dass die Beistandspersonen und die Familie Ziele daraus ableiten können. Werden diese erreicht, kann die Massnahme wieder aufgehoben werden. Aber in unserer risikoaversen Gesellschaft ist das Sicherheitsbedürfnis so gross, dass kaum jemand wirklich ein Interesse daran hat, in absehbarer Zeit eine Massnahme zu beenden.»

Liege beispielsweise eine Gefährdungsmeldung vor, so müssen die Gefährdungsgründe klar formuliert sein. Und sie müssen gegenüber den Familien explizit und altersgerecht kommuniziert werden. «Wir sollten viel stärker vom Kind her denken und prüfen, ob der Auftrag der Beistandsperson für alle Seiten klar ist und ob er erfüllt wird», betont Huber.

Lebendigere Feedbackkultur

Eine offenere, lebendigere und systematischere Feedbackkultur könnte hier die Lösung sein. «Für die Beiständ:innen ist es teilweise schwieriger, mit Kritik umzugehen, wenn die positiven Rückmeldungen fehlen. Von denen haben wir aber jetzt durch die Studie – neben den unterschiedlichen Anregungen aus der Diskussion mit der Fachgruppe – viele bekommen.»

Als Nächstes entscheidet die AJB-Geschäftsleitung, welche Empfehlungen und Vorschläge in die Planung der kommenden Jahre einfliessen. Einige davon gehen auf die Studie zurück oder wurden von dieser bestätigt. «Eigentlich sollten wir nicht Wissenschaftler:innen losschicken müssen, um zu erfahren, wie unsere Klient:innen die Angebote erleben», sagt Matthias Huber, «aber unser Beispiel zeigt, dass dies ein sinnvoller erster Schritt sein kann.»